Aus DIE KALEBASSE, Ausgabe 74, 2023
Über die »via turonensis«
Auszüge aus dem Pilgerbericht (2003) von Lothar TruéI Rösrath (östlich von Köln) über Aachen und Lüttich nach Paris und m Sommer 2003 lief Lothar Trué (1931 – 2008) von seinem Wohnortvon dort auf dem traditionellem Jakobsweg »via turonensis« über Tours bis zu Pyrenäen (insg. ca. 1500 km). Nach Abschluss der Wanderung verfasste er einen 100-seitigen Pilgerbericht, den er mir mit Brief vom 8. März 2004 mit folgenden Worten zusandte: »Lieber Herr Wipper, können Sie so etwas gebrauchen? Falls es Ihnen gefällt und Sie Auszüge oder was weiß ich daraus machen wollen, dann geben Sie mir doch schriftlich Bescheid, wie Sie den Text aufbereitet haben wollen. Sagen Sie auch, ob ich die Fotos ggf. als Abzüge beilegen soll. Ab morgen bin ich nicht mehr zu Hause, sondern unterwegs nach Spanien – per Camper, versteht sich. Am 15. März eröffne ich für dieses Jahr die Herberge in La Faba. Über meine Tätigkeit als Herbergsvater bekommen Sie auch mal was Schriftliches. – Mit freundlichen Grüßen, Ihr Pilgerbruder Lothar Trué. «Auf den Bericht der Pilgerwanderung von 2003 wurde in der »Kalebasse« Nr. 36, 2004, S. 99f hingewiesen. Jetzt, 20 Jahre nach der Wanderung, wird mein Versprechen eingelöst, daraus Auszüge in der »Kalebasse« zu veröffentlichen. Lothar Trué startete am 3. Juni 2003 in Rösrath und beschloss seine Pilgerwanderung am 27. Juli 2003 kurz vor der spanischen Grenze in den Pyrenäen. In dem mir gesandten Exemplar seines Pilgerberichts gibt er jeweils Tag und Etappe an, auf S. 6 von Rösrath bis Tours und auf S. 41f von Tours bis Saint-Jean-Pied-de-Port. Dadurch können in folgenden Auszügen jeweils Ort und Zeit angegeben werden.Die Bilder der Farbaufnahmen von Lothar Trué lagen dem Redakteur der »Kalebasse« nicht vor. Wenn nichts anderes angegeben ist, stammen die hier wiedergegebenen Fotos von Dr. Kurt-Peter Gertz, der im Jahre 2022 von Paris über Tours bis Puente la Reina gepilgert ist und darüber im Buch »Helden, Heilige und Halunken sind mir voraus … auf dem französischen Jakobsweg ›via turonensis‹« (Solingen 2023) berichtet hat. Eine Übersichtskarte zur Via Turonensis ist in dieser »Kalebasse« auf S. 4 zu finden. (Heinrich Wipper)
Paris: 22. Juni 2003
Vorbemerkung: Die erste Tagesetappe des Weges von Paris nach Tours machte Lothar Trué gemeinsam mit dem Pariser Pilgerfreund Jean Paul, den er während seiner Pilgerwanderung auf der Via Podiensis im Jahre 1998 in Aubrac kennengelernt hatte.) Nach der Messe haben Jean Paul und ich an der Tour Saint-Jacques in der Cité unseren Pilgerweg begonnen.
Wir sind über die Île zur Kathedra le Notre-Dame gezogen und dann die Rue Saint Jacques hochgelaufen, an der die Sorbonne liegt, bis wir zur Église St. Jacques kamen, in der ich mir den Stempel für mein Pilgertagebuch geholt habe. Danach ging es weiter zur Faubourg Saint Jacques und schließlich bis zur Église Saint Jacques Majeur in Montrouge. Die lag schon jenseits der Périphérique. Durch die häufige Nennung des Apostelnamens und die beiden Kirchen ist das Andenken an Saint-Jacques und an den Weg der mittelalterlichen Wallfahrer bewahrt worden. (S. 27)
Orléans: 26./27. Juni 2003
Mit Bus und Straßenbahn fuhr ich ins Zentrum (von Orléans) zum Bahnhof und fragte, wo die Jugendherberge sei. Es war noch ein Stück zu laufen. Sie war in einem großen Haus im Renaissancestil untergebracht und lag – nur durch eine Straße getrennt – am Ufer der Loire. Von meinem Zimmer im Obergeschoss aus konnte ich durch ein kreisrundes Fenster auf den Fluss und die alte Brücke schauen. Ich war sehr berührt. Hatten doch meine Frau und ich hier 1986 auf unserer ersten gemeinsamen Etappe hinter Paris anhand des Buches von Helmut Domke über Aquitanien (München 1978) die Wege der mittelalterlichen Pilger verfolgt und uns hier schon fast wie echte Wallfahrer gefühlt. Jetzt war ich selbst zu Fuß hierher gelangt. Das hätte ich mir damals nicht träumen lassen … Für den Besuch der Kathedrale war es zu spät. Ich habe sie erst am anderen Morgen aufgesucht. In Sainte-Croix wurde den Pilgern im Mittelalterein Partikel des wahren Kreuzes Christi gezeigt. (S. 33f)
La Chapelle-Saint-Mesmin (bei Orléans): 27. Juni 2003
Von Orléans bis Meung-sur-Loire bin ich dem Fernwanderweg GR 3 gefolgt, der lange Zeit am Ufer der Loire verläuft. Unterhalb von La Chapelle-Saint-Mesmin saß ein alter Herr auf einer Bank, der eine ganz dunkle Brille trug. Ich dachte, er sei blind, aber er sprach mich an, offenbar hatte er gesehen, dass ich einen Rucksack trug. Er fragte mich nach dem Woher und Wohin, und als er hörte, dass ich aus Deutschland sei, hat er mich gebeten, neben ihm Platz zu nehmen. Er hat von seiner Zeit als »Fremdarbeiter« während des Krieges in Hagen erzählt. Ich habe aus seinen Worten keine Bitterkeit gespürt. Ganz sachlich hat er von damals berichtet. Und dann hat er den »Erlkönig« zitiert. Ich war überrascht, dass er sich daran erinnerte und ein so gutes Deutsch sprach. Er hat mir von Saint-Mesmin erzählt, der die Umgegend christianisiert habe und wollte mir die aus der Merowingerzeit stammende Krypta der Kirche von La Chapelle-Saint-Mesmin zeigen. Leider war sie geschlossen. Von den Überschwemmungen der Loire und von den Schutzdämmen, die man errichten musste, hat er berichtet. Und ich solle nicht versäumen, nach Cléry-Saint-André auf die andere Seite der Loire zu gehen, dort sei der französische König Louis XI begraben. Zum Abschied hat er mir die Hand gegeben und »Bonne route, camarade!« gesagt. Ich solle für den Frieden unter unseren beiden Völkern beten, unterwegs auf meinem Pilgerweg. Es sind diese Begegnungen auf dem Weg, die mich unendlich bereichern. (S. 35)
Meung-sur-Loire: 27. Juni 2003
In Meung-sur-Loire suchte ich das Anwesen, dessen Anschrift mir die Damen in der Kathedrale Sainte-Croix von Orléans geben hatten. Das Haus hieß »La Ruche«, der Bienenkorb, und gehörte der Diözese Orléans. Es stand in einem schönen Park und wurde von Marie Joelle mit einigen Hilfskräften betreut.Mit ihr habe ich nach dem Abendessen gregorianischen Choral gesungen. Ihre Begeisterung beim Singen und ihr Können haben mich beeindruckt. Solch eine gute Interpretin könnten wir in Rösrath gut in derChoralschola brauchen. (S. 36f)
Amboise: 29. Juni 2003
Das schöne Schloss von Amboise spiegelte sich in der Loire. Dort hatte Leonardo da Vinci als Gast des französischen Königs François 1. gelebtund seine mechanischen Geräte entworfen. Der Ort war von Touristen überlaufen, die Jugendherberge überfüllt, auf dem Campingplatz kein Bungalow frei. – Hätte ich ein Zelt mitgeschleppt, so hätte ich im Angesicht des Schlosses auf der Loireinsel kampieren können, die durch eine alte Brücke mit den Orten hüben und drüben verbunden ist. Nur mit Mühe fand ich eine Hotelunterkunft, wieder einmal mit einem sehr teuren Zimmer. (S. 38)
Montlouis-sur-Loire: 30 Juni 2003
In Montlouis-sur-Loire nahm ich den Wanderweg GR3 wieder auf. Über die Eisenbahnbrücke führte er auf die rechte Seite der Loire und verlief teilweise mitten auf der Deichkrone. Der Fluss hatte trotz des Wochentages sein Sonntagskleid angelegt und floss ruhig und gelassen dahin. Während ich über die Deichkrone meinem Weg folgte, hätte ich vor Freude singen können. Ich war ganz allein, habe es aber nicht gewagt, dieStille zu stören. (S. 39)
Tours: 30. Juni / 1. Juli 2003
In Tours wollte ich wollte einen Ruhetag einlegen und habe in der Jugendherberge sofort zwei Übernachtungen gebucht. Es gab sogar ein Einzelzimmer für mich mit Blick über die Dächer von »Vieux Tours«. Später saß ich vor einem kleinen Restaurant in einer der schmalen Straßen und schaute beim Abendbrot den jungen Leuten zu, die auf und ab flanierten. Sie schienen aus aller Welt hierher zu kommen. Kein Wunder, Tours ist Universitätsstadt. Genau vor vier Wochen war ich von Zuhause aufgebrochen und hatte in den 28 Tagen etwa die Hälfte der Strecke bis zu den Pyrenäen zurückgelegt. Ich war mit mir zufrieden. Am nächsten Tag besuchte ich zuerst die Kathedrale und dann die Basilika Saint Martin, in der gerade die Messe begonnen hatte. Nonnen saßen auf beiden Seiten in den vorderen Bänken. Eine ganz junge Ordensfrau bediente das Harmonium und sang mit heller Stimme die Lieder an. Unten in der Krypta habe ich auch gesungen, aber allein und ganz leise. Vor dem Schrein des Heiligen habe ich das Martinslied angestimmt: »Sankt Martin ritt durch Schnee und Wind …«. Zur 1600 Jahr-Feier – so lange wird der heilige Martin schon verehrt – sind 1997 auch viele Pilger aus deutschen St.-Martinus-Pfarreien nach Tours gekommen und haben die Reliquien des Heiligen aufgesucht … Man hat herausgefunden, dass dieser Weg nach Süden bzw. Südwesten bereits vor der Verehrung des hl. Jakobus in Santiago de Compostela in umgekehrter Richtung von den Pilgern benutzt wurde, die von Süden her zum Grab des hl. Martin nach Tours gekommen sind. Ich brauchte ab hier meinen Weg nicht mehr selbst zu suchen, sondern konnte mich des in französischer Sprache herausgegebenen Reiseführers bedienen, den ich im Pilgerzentrum in Paris erworben hatte (Jacqueline et Georges Véron: Le chemin de Tours vers Saint-Jacques-de-Compostelle. Ibos, Rando Editons, 2001). Die noch zurückzulegende Strecke auf französischem Gebiet war in dem Buch in 29 Einzeletappen aufgeteilt und betrug 720 km, die ich in weiteren vier Wochen zu bewältigen hoffte. (S. 39–41)
Sainte-Catherine-de-Fierbois: 2. Juli 2003
Vom Stadtrand von Tours marschierte ich parallel zur Autobahn A10, der Aquitaine, direkt nach Süden über die N10, die ich erst am Nachmittag verließ, um seitab über ländliche Straßen durch kleine Waldstücke nach Sainte-Catherine-de-Fierbois zu gelangen, einem kleinen Ort, der eine »aumônerie«, ein Pilgerhospiz, besaß (gegründet lt. Inschrift 1415). Der Ort ist durch Jeanne d’Arc bekannt geworden. Bereits auf der »via lemovicensis«, der Pilgerroute über Limoges, hatte ich im Jahr 2000 mit der »Jungfrau von Orléans« Bekanntschaft gemacht. Seinerzeit war ich über Domrémy-la-Pucelle gewandert, ihren Geburtsort. Auf diesem Pilgerweg waren es gleich zwei wichtige Orte, Orléans und heute diese Ortschaft. Ihre Statue vor der ehemaligen Herberge, jetzt Mairie und Bibliothek, erinnerte an eine erstaunliche Geschichte. Johanna, die bis dahin noch keine Waffe mit sich führte, hatte ihrer Begleitung aufgetragen, in der Chapelle Sainte-Catherine (von Alexandrien) hinter dem Altar das Schwert mit den fünf Kreuzen hervorzuholen. Und so geschah es auch. Die Begleitung fand das Schwert, und Jeanne d’Arc trug es fortan zu ihrer Rüstung. Es diente bei der Befreiung der Stadt Orléans von den Engländern als auch in Reims bei der Krönung des Königs. Auch das Datum war für das hiesige Ereignis festgehalten worden und stand am Denkmal zu lesen: der 23. April 1429. (S. 42f)
Châtellerault: 6./7. Juli 2003
Von Dangé-Saint-Roman bis Châtellerault bin ich über die D161 gezogen, die parallel zur Bahnlinie verlief und teilweise auch als GR655 gekennzeichnet war. In der Stadt war die St.-Jakobs-Kirche leider nicht offen, und im »presbytère«, wo ich geläutet habe, hat sich weder der Pfarrer noch sonst jemand gemeldet, um die Kirche zu öffnen. Deshalb konnte ich mir die berühmte Statue des hl. Jakobus im Pilgerhabit nicht anschauen. In Châtellerault gab es zwar ein »Gîte d’Étape« zu einem akzeptablen Pauschalpreis für Abendessen, Übernachtung und Frühstück, man hätte sich allerdings vorher anmelden müssen, was ich versäumt hatte. Doch fand ich im Hotel l’Univers Zimmer und Abendbrot vergleichsweise preiswerter als bisher. Am anderen Morgen war die Kirche noch immer geschlossen, und nicht einmal im Touristenbüro wusste man, wann die Pilgerstatue zu sehen sei. Ich habe auf einen Zettel geschrieben, dass ich auf dem Jakobsweg von weit her gekommen und wegen der geschlossenen Kirche ziemlich enttäuscht sei. Den Zettel warf ich in den Pfarrbriefkasten. (S. 45f)
Poitiers: 7. Juli 2003
Es waren noch mehr als zwei Stunden bis nach Buxerolles am Stadtrand von Poitiers, wo die legendenhaften Fußabdrücke des Apostels gezeigt werden. Ich nahm da den Bus ins Zentrum, von wo ich wieder per Bus zu der ein wenig außerhalb liegenden Jugendherberge gelangte. Diesmal gab es kein Einzelzimmer, sondern ich war mit einem Franzosen in einem Zimmer mit vier Betten untergebracht.In Poitiers, der Hauptstadt des Poitou, habe ich mich gleich zu Hause gefühlt, weil meine Frau und ich die Stadt ihrer bedeutenden Bauwerke wegen schon häufig besucht hatten. Das sind das Baptistère Saint-Jean, die Église Notre-Dame-la-Grande, die Basilika Saint-Hilaire und die Kathedrale Saint-Pierre. Der Besuch der Kirche mit den Reliquien des hl. Hilarius war ein »Muss« für den mittelalterlichen Pilger. Der Heilige war der Lehrer des hl. Martin und wird zu den Kirchenlehrern gezählt, weil er entschieden den Arianismus bekämpft hat und dafür sogar in die Verbannung gehen musste. Nicht weit von der Kathedrale steht die bemerkenswerte Kirche Sainte-Radegonde mit der Krypta und dem Grab der aus Thüringen stammenden heiligen Königin. Sie wird auch heute noch sehr verehrt, besonders von den Studenten, die vor einem Examen stehen. Sie kriechen unter dem Tombeau her, damit sich die Heilige für sie bei der Prüfung verwende. Dieses Jahr hatte Poitiers eine Attraktion für die Touristen parat. Mit farbigen Laserstrahlen wurde nach Einbruch der Dunkelheit die Fassade von Notre-Dame-la-Grande angestrahlt, so dass es schien, als ob die vielen Figuren der Schauwand bunte Gewänder tragen würden. Natürlich machte das Touristenbüro darauf gehörig aufmerksam. (S. 47f)
Lusignan: 8. Juli 2003
Die nächste Station war Lusignan, wo ich erst abends ankam. Schnell schlüpfte ich noch in die für das Poitou typische dreischiffige Hallenkirche mit dem schönen figurenreichen Portal, das eine alte Frau mit einem großen Schlüssel gerade zusperren wollte. Ich müsse jetzt heraus aus der Kirche, hat sie gesagt, aber ich dürfe unter dem Portal im Freien mein Lager aufschlagen und könne morgen wiederkommen. Das hatte mir bisher noch niemand gesagt. Über dem Touristenbüro war an der Hauswand ein Relief der schönen Melusine angebracht, deren Gestalt, halb Frau, halb Fisch, in den Archivolten und Sparrenköpfen der Kirchen des Poitou wiederzufinden war. Die Herren von Lusignan führten ihr Geschlecht auf diese »mère lusin« zurück. Zwei von ihnen waren im 12. Jhdt. Könige in der von den Kreuzfahrern wiedereroberten Stadt Jerusalem und in Zypern. Noch heute führt die Stadt im rechten oberen Viertel ihres Wappens ein weißes Jerusalem-Kreuz. (S. 49f)
Melle: 9./10. Juli 2003
Ich hatte etwa 30 km über die D950 (von Lusignan) bis nach Melle vor mir. Als ich um halb acht abends müde und erschöpft dort angekommen bin, habe ich im erstbesten Hotel ein Zimmer genommen. Es gab da zwar einen »Gîte d’Étape« der Gemeindebehörde, aber er lag außerhalb, und ich war zu erschöpft, noch die paar Kilometer zu laufen. Der Tag war ziemlich heiß gewesen. Erst am anderen Morgen nahm ich mir die Zeit, die drei romanischen Kirchen Saint-Savinien, Saint-Pierre und schließlich Saint-Hilaire zu besichtigen. Von diesen gefiel mir Saint-Hilaire ambesten. (S. 50)
Aulnay: 10./11. Juli 2003
In Aulnay steht mitten auf dem Friedhof mit vielen teils umgestürzten uralten Steinsärgen die romanische Kirche Saint-Pierre mit ihren beeindruckenden Portalen und figurenreichen Archivolten fast noch genau so, wie die Pilger sie im Mittelalter gesehen haben. Dass hier Etappenziel war, hat sich die Gemeinde angelegen sein lassen. Im Touristenbüro bin ich äußerst zuvorkommend behandelt worden. Dessen Präsident sprach mich an und hat der zuständigen Dame bedeutet, sich um mich vor allen anderen Besuchern zu kümmern. Sie möge mir eine der Unterkünfte vermitteln, die von etlichen Familien im Ort für Pilger preiswert bereitgehalten wurden. Er schrieb in mein Pilgertagebuch: »Nous vous souhaitons un bon voyage sur la route de Compostelle.« Dann bin ich zu der empfohlenen Unterkunft gegangen … Ich erhielt ein schönes Zimmer mit drei Betten, Dusche und WC und war der einzige Gast. Bevor ich mich (am nächsten Tag) wieder auf den Weg machte, habe ich mich noch einmal an den Figuren über dem Kirchenportal erfreut. Darunter war ein Esel, der dieLeier schlägt. Wer kann die Symbolik heute noch deuten? (S. 54f)
Saint-Jean-d’Angély: 11. Juli 2003
Saint-Jean-d’Angély aufzusuchen, wurde bereits im Pilgerführer des Aimery Picaud aus dem 12. Jahrhundert gefordert, weil hier das Haupt Johannes des Täufers verehrt würde. Die Behörde hat dem Rechnung getragen und in der ehemaligen Benediktinerabtei ein »Centre de Culture Compostellane« eingerichtet. Als Pilger wurde ich – wie schon zuvor in Aulnay – auch hier im Touristenbüro zuvorkommend empfangen und an das Zentrum vermittelt, wo ich unentgeltlich ein Einzelzimmer erhielt, in dem ich herrlich geschlafen habem (Anmerkung der Redaktion: Der neue »Miam Miam Dodo«, 2022/2023, zur Via Turonensis weist keine Übernachtungsmöglichkeit mehr in oben genannter Abtei aus. Zum Kulturzentrum siehe auch: Die Kalebasse Nr. 12, 1993, S. 9f)). In dieser Stadt gab es viele gut restaurierte Fachwerkbauten aus dem späten Mittelalter. Die Barockkirche war nicht vollendet worden, von ihr standen nur die Türme. Durch eine kleine Seitentür gelangte ich aus der Abtei hinaus auf die Straße und stand unmittelbar vor der Fontaine du Pilori, einem Brunnenbecken im Renaissancestil mitten in der Stadt. (S. 55f)
Saintes: 12./13. Juli 2003
Saintes, an der Hauptroute von Tours gelegen, wird ebenfalls im Liber Sancti Jacobi wegen der Verehrung des heiligen Eutropius, des ersten Bischofs der Stadt, erwähnt. Sie ist eine alte römische »civitas«, seinerzeit Mediolanum Santonum geheißen und sehr sehenswert wegen der Bauten aus römischer und romanischer Zeit. Daher sollte man, so es möglich ist, einen Ruhetag einlegen, um Zeit zur Besichtigung zu haben …In Saintes angekommen, bin ich zielstrebig zur Kirche Saint-Eutrope gegangen, weil es dort eine Pilgerherberge gab. In Aulnay hatte man mir im »Office de Tourisme« eine Liste mit den Telefonnummern und Anschriften der Pilgerherbergen gegeben. Das kam mir jetzt zugute. Ohnehin war mir die Stadt vertraut, weil wir, d. h., meine Familie, mehrere Sommerurlaube auf der nahe gelegenen Insel Oléron verbracht haben.Bevor ich in die Herberge schaute, habe ich den Sarkophag des hl. Eutropius unten in der Krypta aufgesucht, wie es schon dem mittelalterlichen Pilger geboten war. Dann bin ich außen am Chor vorbeigegangen und durch einen Torbogen in einen Innenhof gelangt. Dort saß eine Dame um die Fünfzig vor der Herberge im Schatten und las in einem Buch. Nachdem Pierrette, so war ihr Name, mein Credential geprüft, die Daten ins Buch eingetragen und 6 € kassiert hatte, händigte sie mir den Schlüssel zur Herberge aus, den ich am nächsten Morgen beim Weggehen in den Briefkasten werfen sollte. Ich war der einzige Pilger heute am Samstagabend. Die Herberge war unmittelbar an Saint-Eutrope angebaut. An einer Wand traten kleine Säulen plastisch hervor. Die Unterkunft hatte vier Betten, je zwei übereinander, dazu sanitäre Anlagen und Kochgelegenheit. Im Raum der Herberge wurde es wegen der mächtigen Mauern nachts ziemlich kühl, so dass ich tief in meinen dünnen Schlafsack hineingekrochen bin. Am nächsten Tag habe ich auf meinem Weg durch die Stadt noch die Kathedrale besucht. Über eine schmale Fußgängerbrücke, von der Jungen in die Charente sprangen, gelangte ich in den östlichen Teil der Stadt, wo die Abbaye-aux-Dames mit der Kirche Sainte Marie steht, berühmt als herausragendes Bauwerk der Romanik in der Saintonge. (S. 56–58)
Pons: 13. Juli 2003
Es war der Vorabend des 14. Juli, des Nationalfeiertags. Unter dem Donjon mitten auf dem Platz war ein großes Podium aufgebaut mit Lautsprecherboxen und Scheinwerfern, und viele Leute saßen vor den Restaurants, die den Platz umgaben. Ich erwischte noch einen winzigen freien Tisch und bestellte mir Muscheln zum Abendessen. Nachdem die Band die Lautsprecheranlage ausprobiert hatte, dröhnte die Musik aus den Boxen … Ich ging in das alte Pons in die Unterstadt zur Kirche SaintVivien mit der romanischen Fassade. Neben der Kirche mündeten etliche Straßen in einen Kreisverkehr. Dort hatte man in der Mitte der Verkehrsinsel eine bronzene Pilgergruppe zur Erinnerung an die Hochblüte der Pilgerzeit aufgestellt. Es war dunkel geworden, Kirchenfassade und Pilgergruppe wurden angestrahlt. Auch das ehemalige Stadttor und das altePilgerhospiz daneben standen im Scheinwerferlicht. (S. 60f)
Blaye: 16. Juli 2003
Ich suchte die ehemalige Abtei Saint-Romain mit dem Grab Rolands. Hinter einem Drahtzaun, »Betreten verboten«, konnte ich nur noch die Grundmauern erkennen, da war kein Roland mehr zu finden. Die Abtei bestand schon seit Jahrhunderten nicht mehr. Oben auf der Festung, welche über der Mündung wachte, hatte man für Pilger im ehemaligen Couvent des Minimes zwei Betten bereitgestellt. Dort gab es auch eine »Maison de Zülpich« wegen der Partnerschaft der Stadt Blaye mit Zülpich im Rheinland. Von der Zitadelle aus hatte ich eine weite Sicht über die Gironde. (S. 69)
Bordeaux: 17. Juli 2003
In Bordeaux habe ich nach den Spuren früher Pilger gesucht und eine Rue Saint-James gefunden, die unter der »Grosse Cloche«, dem Uhrturm, verlief. Da gab es auch einen Hinweis auf das ehemalige Hôpital Saint James, das ehedem an dieser Straße gelegen hat. Der Pilgerführer (von Jacqueline und Georges Véron) wies darauf hin, dass eine Statue des Apostels Jakobus maior im Musée d’Aquitaine zu finden sei. Also habe ich das Museum aufgesucht und mir dort eine schriftliche Erlaubnis zum Fotografieren geholt. Frohgemut bin ich hochgestiegen zu dem bezeichneten Saal und fand an der Wand einen Zettel, dass die Statue zu einer Ausstellung nach Quebec ausgeliehen sei. Dann bin ich nach Saint-Seurin gegangen, einer romanischen Basilika aus der Blüte der Pilgerzeit. Am Gewände des Südportals standen große Apostelstatuen, Sankt Jakobus war an der Muschel leicht zu erkennen. Nach der Legende hatte Karl der Große das Herz Rolands in dieser Kirche beisetzen lassen, auch Olifant, das sagenhafte Horn, wurde dem Kirchenschatz zugerechnet. (S. 73f)
Gradignan, Prieuré de Cayac: 18. Juli 2003
Der »Gîte d’étape«, dem ich zustrebte, wurde in meinem Pilgerführer als 800 Jahre altes Bauwerk gerühmt. Es handele sich um die ehemalige »Prieuré de Cayac« (in Gradignan bei Bordeaux), sogar das Steinpflaster sei noch das gleiche wie zur Zeit der Jakobswallfahrt im Mittelalter. Ich war voller Erwartung. Das Anwesen, an der N10 gelegen, erwies sich als eine Gebäudegruppe, bestehend aus Prioratskirche sowie einem herrschaftlichen Gebäude mit Anbauten um einen Innenhof. Davor war ein Mühlenteich mit Schwänen darauf. In Erinnerung an die Zeit, in der hier Pilger auf ihrem Weg nach Süden in ein »Hôpital« aufgenommen wurden, hat die Verwaltung von Gradignan vor dem Anwesen einen sitzenden Pilger aus Bronze errichtet, der sich gerade von den Strapazen seines Weges erholt.
Es lohnt sich, beim »Point accueil« eine Informationsschrift zu besorgen, in der die bewegte Geschichte der »Prieuré« nachzulesen ist. In einem der Nebengebäude (Anmerkung der Redaktion: Nach Auskunft des Wegführers »Miam Miam Dodo« (2022/2023) zur Via Turonensis können Jakobspilger mit Pilgerpass im ehemaligen Priorat Cayac von Gradignan immer noch übernachten, heute allerdings in einem Schlafsaal mit acht Betten), das vielleicht als Orangerie gedient hat, war die heutige Pilgerherberge mit zwei Schlafräumen, Aufenthaltsraum, Küche und Sanitärbereich untergebracht. Im Ort hatte ich Verpflegung besorgt und habe ein vollständiges Abendessen gekocht. Die Fenster und Außentüren zum Park hin waren vergittert. Ich hatte die Läden weit aufgestoßen und konnte bei offenem Fenster herrlich schlafen. (S. 76f)
Moustey: 20./21. Juli 2003
Klar, Moustey, das kam vom lateinischen »monasterium«. Laut meiner Liste gab es dort einen Gîte d’étape mit 15 Plätzen. Er lag etwas außerhalb des Dorfes auf dem Gelände eines Bauernhofes. Ich erhielt ein geräumiges Zimmer mit dem breiten französischen Bett. Essen musste man im Ort bei einem Holländer, der die Gastwirtschaft gepachtet hatte. Er hatte auch den Stempel für mein Pilgerbuch … Erst am anderen Morgen habe ich die beiden Kirchen aufgesucht. St. Martin war die Pfarrkirche und das andere Gebäude die Kapelle des ehemaligen Pilgerhospitals, heute Museum. Darin gab es eine Ausstellung, offensichtlich mit Exponaten aus beiden Gotteshäusern, angereichert mit Fotos von Kirchen und ihren Pfarrpatronen aus der Umgegend. Neben einem schönen Jakobus in Pilgerkleidung entdeckte ich auch arg verblasste Fresken, die einer Auffrischung bedurft hätten. Auf dem Kirchendach stand eine hölzerne Hütte, gerade so hoch, dass ein nicht allzu großer Mensch darin stehen konnte. Man hat mir erklärt, dass sie früher im Sommer stets besetzt gewesen sei, damit man gegebenenfalls am aufsteigenden Rauch sofort erkennen konnte, wo sich ein Feuer im Wald ausbreitete und eingreifen konnte. Vor den beiden Gebäuden war eine Art Stele errichtet worden, die besagte, dass es noch 1000 km bis nach Santiago sein würden. In Gedanken habe ich Berechnungen angestellt, wann ich dort ankommen würde, und kam auf Ende August, Anfang September.Auf dem Weg durch den Ort traf ich einen alten Herrn mit einer Einkaufstasche. Ich habe ihn gegrüßt und den Hut gezogen. Er fragte nach meiner Herkunft, und als er erfuhr, dass ich aus Deutschland sei, begann er deutsch mit zu sprechen, wobei er immer fragte, ob sein Deutsch gut sei. Die Kenntnisse hatte er während seiner Kriegsgefangenschaft in Bad Ems an der Lahn erworben. Er konnte sogar Gedichte von Goethe rezitieren. Ich solle sein Alter schätzen. »Kurz über achtzig«, habe ich gesagt. Im Herbst würde er 90, war die Antwort. Mit beiden Händen fasste er meine Hand und bat, doch unterwegs für den Frieden zu beten. Ichschrieb seinen Namen auf: Jean Bedin. (S. 81–83)
Les Landes*, vor Labouheyre: 21. Juli 2003
Von Moustey machte ich mich auf den Weg nach Labouheyre. Die Wallfahrer früherer Zeiten haben die Durchquerung dieser Region, der »Landes«, gefürchtet. Damals war die Landschaft eine ausgedehnte Wüstenei mit sumpfigem Grund und aggressiven Stechmücken. So steht es in alten Pilgerberichten. Heute marschierte ich durch den Pinienwald auf gut begehbaren Sandpisten, die später in Wege mit festem Belag übergingen. Das Harz der Bäume duftete, und Sträucher und Heidekraut blühten in den unterschiedlichsten Farben. Stechmücken haben mich nicht belästigt, aber ab und zu wurde ich von einem Fliegenschwarm überfallen, der angelockt wurde, weil ich so schwitzte. Dann wirbelte ich meinen Stock vor dem Gesicht herum und versuchte, sie zu verjagen. Wenn ich fünf Meter weiter war, ließen sie von mir ab, bis der nächste Schwarm kam. Das Waldgebiet wurde unterbrochen durch ausgedehnte Maisfelder mit hohen Bewässerungsmaschinen. In diesem heißen Sommer rieselte das Wasser ohne Unterbrechung auf die Maispflanzen, während es den Anwohnern, so hatten sie geklagt, in den kleinen Weilern verboten war, Blumen, Gemüsepflanzen und Bäume im Garten zu wässern. Die Ansiedlungen in den Waldgebieten der »Landes« fand ich besonders bemerkenswert. Auf einer Lichtung mit Kastanienbäumen oder Eichen standen Häuser, die offensichtlich ganz aus Holz errichtet waren. Wohnbereich, Wirtschaftsräume und Ställe waren unter einem Dach untergebracht. Sie hatten im Erdgeschoss an der Vorderseite eine überdachte Veranda, darüber unter dem Giebel einen ausgedehnten Speicher und waren in kräftigem Grün gestrichen. Ich hörte, das seien typische Häuser für die Region, »maisons landaises«. (S. 83f)
Labouheyre: 21. Juli 2003
In Labouheyre gab es eine Kirche Saint-Jacques, nach dem Baustil zuurteilen, aus dem vorigen Jahrhundert. Sie hatte einen massiven Turm, der nicht zur Kirche passte. Im Innern sah ich unmittelbar beim Eingang, dass die Decke unter dem Turm mit der königlichen Lilie und dem Zeichen der Pilgerschaft, der Jakobsmuschel, bemalt war. Sankt Jakobuswar in einem Chorfenster zu sehen und auf einem kleinen Tisch hintenim Kirchenraum lagen Faltblätter mit allen wichtigen Daten. Beim Lesenwurde mir auch die seltsame Form des Turmes klar. Die Dachfläche hatte ab der Mitte des 19. Jahrhunderts als Telegrafenstation gedient. Von hieraus hatte man Kontakt über Solferino nach Süden. Im Ort gab es um 1150 einen Karmeliterconvent, wo kranke und erschöpfte Pilger Aufnahme gefunden hatten. Jetzt suchte ich vergeblich nach einer Pilgerherberge, doch fand ich in einem kleinen Hotel ein preiswertes Zimmer. Als Entrée zum Abendessen gab es eine Gemüsesuppe, in der dicke Kartoffelstücke schwammen. Als ich wegen der Kartoffeln in Freudenrufe ausbrach, haben alle gelacht. (S. 85)
Dax: 23./24. Juli 2003
Als ich am späten Nachmittag endlich erschöpft am Rand von St-Paul-les Dax angekommen bin, habe ich den nächsten Bus in die Innenstadt genommen und bin weiter in Richtung des Centre Jean-Paul Il gefahren. L’Arrayade, wie der gesamte Komplex hieß, lag in einer gepflegten Parkanlage. Ich konnte gegen Vorlage meines Credentials preiswert und sehr gut in dem Gebäude unterkommen, in dem sich einst das große Priesterseminar befand. Dax ist berühmt wegen seiner Thermalbäder, der Name konnte nur von »de aquis« (= daqus = daqs) kommen. Tatsächlich führt sie die Buchstaben ACQS im Wappen. In der Stadt wurde der Start der Tour de France vorbereitet. An Straßen und Plätzen stapelten sich die Absperrgitter. Auf großen Plakaten, die überall an Laternenpfählen und Bäumen klebten, war zu lesen, welche Straßen morgen geräumt sein müssten, welche Bushaltestellen nicht bedient würden und wie man zum Krankenhaus kommen könnte. Als Fußgänger hatte ich es gut und würde morgen überall durchkommen.Früh am Vormittag des nächsten Tages habe ich die Kathedrale NotreDame-Sainte-Marie in Dax besucht, die aus dem 17. Jhdt. stammt. Sobald ich die Kirche betreten und mich umgewandt hatte, schaute ich auf das nach Innen gekehrte Portal der ehemaligen gotischen Kirche. In Lebensgröße war dort Christus mit den Aposteln, darunter St. Jakobus mit muschelgeschmückter Tasche, dargestellt. Unweit der Kathedrale sprudelte die heiße Quelle, und das Denkmal des römischen Soldaten mit seinem vom Rheumatismus genesenen Hund war umlagert von Kindern mit ihren Müttern. Durch die Straßen zogen Musikgruppen und Tänzer in rot-weißen Uniformen. An Kiosken wurden gelbe Trikots, Mützen und Taschen mit der Aufschrift »Tour de France 2003« für 15 € angeboten. Das Menschengewühl wurde immer dichter … Im weit räumig abgesperrten Park an der Stierkampfarena sammelten sich die Fahrer. Hier hatten nur Offizielle Zugang. Ich bin mit meinem Rucksack auf die andere Seite des Adour geschlendert und habe mich an der Ausfallstraße nach Norden postiert, über die ich gestern hergekommen war. Meine Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt, und als die Werbekolonne endlich vorbei war und die Fahrer heranrauschten, habe ich mehrere Fotos geschossen. Tatsächlich hatte ich niemanden erkannt. (S. 87–89)
Sorde-l‘Abbaye: 24./25. Juli 2003
Es war schon Mittag vorbei, als ich mich (von Dax) auf den Weg nach Sorde-l’Abbaye macht … Vorsorglich hatte ich am späten Nachmittag bei M. Binquet gemeldet, dass ich erst nach 21:00 Uhr ankommen würde, weil ich die Tour de France gesehen hätte. Das sei kein Problem, hieß es, und tatsächlich wurde ich in Sorde-l’Abbaye von ihm schon auf der Straße erwartet. Das kleine Haus, in dem die Herberge untergebracht war, lag hübsch in einem Garten. Mit mir zusammen war ein Franzose meines Alters, er war zu Fuß auf dem Rückweg von Santiago. Ich hatte unterwegs etwas für das Abendbrot eingekauft, so dass ich nicht hungrig zu Bett gehen musste. Als ich erwachte, war der Pilger schon auf dem Weg. Heute war der 25. Juli, der Festtag des Hl. Jakobus, des Pilgerpatrons. Bis zum heutigen Ziel (Salies-de-Béarn) waren es nur vier Stunden, vorher konnte ich mir Sorde näher ansehen. Sein Ortskern war fast kreisrund um die Abtei gebaut. An einem alten Gebäude unmittelbar an der Straße konnte ich die Einkerbung für Torbalken erkennen. Jenseits verlief eine hohe, aus mächtigen Steinen aufgeführte Mauer, kleine Häusergiebel schauten darüber hinweg. Der Ort war eine Bastide gewesen. Man war gerade dabei, die Abteikirche zu restaurieren, so dass ich nur einen kurzen Blick hineinwerfen, aber die Mosaiken hinter dem Hauptaltar nicht besichtigen konnte. Eine Tafel gab Auskunft, dass die ehemalige Benediktinerabtei im 12. Jhdt. auf den Fundamenten eines gallo-römischen Landhauses errichtet worden sei. In der ehemals reichen Abtei wurden zur Hochblüte der Wallfahrt viele Pilger beköstigt und gepflegt.Ich stand hier wieder auf historischem Boden. (S. 89–91)
Saint-Palais: 26. Juli 2003
In Saint-Palais ging ich geradewegs zur »Maison franciscaine« und schellte. Ein rothaariger Franziskaner kam an die Tür und hieß mich freundlich willkommen. Offensichtlich war er der »Guardian«, der Obere des Hauses. Er wies einem holländischen Paar, das mich vorhin im Ort überholt hatte, und mir Schlafstellen in einem Zimmer mit vier Betten zu, obwohl ich meine Karte gezückt hatte, die 2002 hier im Maison Zabalik für mich ausgestellt worden war: »Adhérent« stand darauf, was wohl soviel hieß wie »Mitglied (der Association Zabalik)«. Es nützte mir aber nichts. Das Haus war voll. Alle Einzelzimmer und selbst der Schlafsaal waren belegt. Ich habe zuerst geduscht und mich für das Abendessen bereit gehalten, während die Kommunität die Vesper gesungen hat. Inzwischen hatte noch eine junge Spanierin das Bett über mir bezogen. Alle Plätze im Speisesaal waren besetzt. Außer den sechs Franziskanern, die zum Hause gehörten, gab es eine Pilgergruppe aus Frankreich, die im Schlafsaal untergebracht war. Franziskanermissionare aus aller Welt verlebten hier ihren Heimaturlaub, auch Brüder aus anderen französischen Franziskaner-Kommunitäten waren anwesend, und schließlich belgische, holländische und spanische Einzelpilger und ein Paar aus Süddeutschland, das mit dem Fahrrad nach Santiago wollte. Beim Abendessen gab es Suppe, Salat, Gemüse, Fleisch und Nachtisch mit reichlich Brot und rotem Landwein aus der Gegend. Alle waren freundlich zu mir, es gab eine lebhafte Unterhaltung, und dennoch fehlte mir etwas. Frère Jean José, der hier als Guardian bis zum vergangenen Jahr allein das Haus geführt hatte und der mich stets mit einer herzlichen Umarmung begrüßt und wieder verabschiedet hatte, war nicht mehr da. Er war von seinen Oberen in einen Konvent im spanischen Baskenland, hoch oben ins Gebirge versetzt worden. Ich glaube, ich habe so etwas wie Heimweh nach ihm verspürt und hatte plötzlich ein unbestimmtes, ungutes Gefühlim Magen. (S. 94–96)
Saint-Jean-Pied-de-Port: 27. Juli 2003
Ist der Pilger vor Saint-Jean-Pied-de-Port angelangt, so muss er über die Straße »Chemin de Saint-Jacques« hochsteigen und dann durch die Porte Saint-Jacques in den Ort einziehen, das ist Pflicht, und ich bin mir sicher, dass ihn ein Glücksgefühl erfüllt. Er ist nun am Fuß der Pyrenäen angekommen und Spanien, das Land seiner Verheißung, ist zum Greifen nah … Ich war schnurstracks zur Herberge der Mme. Etchegoin gegangen und hatte um das ruhige Einzelzimmer unter dem Dach gebeten. (S. 98f)
Nachbemerkung: Gesundheitliche Probleme veranlassten Lothar Trué am nächsten Tag,seine Pilgerwanderung abzubrechen und nach Hause zurückzukehren.