Die Muttergottes und der Wein in Mainz und im Rheingau
von Klaus Seitz, StD i.K. i.R.
Im Dom zu Mainz wird am geschnitzten Marienaltar die Mitte des Schreins von einer ebenso hoheitsvollen wie eleganten Muttergottesstatue von 1510 eingenommen. Die besondere Vertrautheit der Mainzer mit dieser qualitätvollen Traubenmadonna bekundet ihr Name „Die schöne Mainzerin“.
Eindrucksvoll ist die teils schwungvolle, teils aufgeregt geknitterte Gestaltung der Gewandfalten. Sie lenken den Blick von der Mondsichel unter Marias Füßen hinauf zu dem Jesuskind auf ihrem Arm. Hier oben herrscht innige Nähe von Mutter und Kind. Maria schaut mit liebevoll geneigtem Kopf aber ernstem Blick zu, wie das Kind auf die Traube zugreift, die sie ihm hinhält. Wer ganz genau hinsieht, bemerkt, dass an der Traube noch ein Weinblatt ist und dass das Kind in der anderen Hand einen winzigen Vogel hält.[1] Die mehrfachen Sinnebenen der Traubensymbolik werden hier spürbar: einerseits die natürliche Beziehung zwischen Mutter und Kind, bei der die Weinbeeren als eine Süßigkeit von der Mutter für das Kind gesehen werden können.
Der ernste Blick der Mutter macht auch die nächste Sinnebene glaubhaft: Die Traube als Verweis auf die erlösende Passion Christi am Kreuz, als sein Blut vergossen wurde, das mit dem Wein verglichen wird.
Vielleicht nur in Mainz zuhause ist eine andere und ungewöhnliche Form der Marienstatue aus Stein um 1400: Die Weinstrauchmadonna oder auch Kreuzszepter-Madonna. Das hier abgebildete Exemplar befindet sich als „Karmelitermadonna“ in der Mainzer Karmeliterkirche und ist das am besten erhaltene.
Auf dem Kopf erhebt sich die Krone der Himmelskönigin aus üppigem Weinlaub gebildet. Mit der rechten Hand hält sie ein Kreuzszepter, das von einem Weinstrauch umrankt wird; und auf dem linken Arm trägt sie das Christuskind, das ein Schriftband herabhängen lässt. Die ehemalige Beschriftung des Bandes bei dieser der einst farbigen Figur ist nur zu vermuten: Die künftige Passion, die das Kind schon vorausweiß, oder die Namen der Apostel.[2] Auf dem kleinen Kruzifix vor dem Weinstock ist der erwachsene Christus bereits an das Kreuz geschlagen, in den Reben sind kleine Engel, die das Blut in kleinen Bechern auffangen.
Dass diese Darstellungen nicht nur etwas für theologisch Gebildete, sondern volkstümlich waren, wird dadurch deutlich, dass von den „Hausmadonnen“ an Mainzer Hausfassaden oder Hausecken eine genau diese Form zeigt: an der Korbgasse.
Westlich von Mainz, nördlich des Rheins befindet sich der Rheingau, wo die Kirchen von Kiedrich, Hallgarten und Kloster Eberbach nicht weit auseinander liegen.
Bei der edlen gotischen sitzenden Madonna von Kiedrich (in Sankt Valentin) hat das Kind keine Traube, sondern einen Vogel auf der Hand, doch die Krone der Mutter zeigt stilisiert, aber unverkennbar Weinblätter.
Weiter westlich, in der Mariä-Himmelfahrts-Kirche von Hallgarten, steht in einem Tabernakel an der Wand die „Schrötermadonna“, die gleich auf mehrfache Weise mit dem Weinbau verbunden ist. Sie steht über einer Mondsichel, von der die Spitzen und das Gesicht darin nach unter gewendet sind. Das Gesicht der Maria mit ihrer für den „Weichen“ oder „Schönen Stil“ kennzeichnenden hohen Stirn, es ist überhöht von einer Krone aus üppigen Weinlaub-ornamenten. Von da herunter fließt in schöner Linienführung der Gewand-schleier um den Kopf und über die Brust hinüber zu der Hand, mit der sie das Kind hält. Der Bildschnitzer hat die Weichheit des kindlichen Oberschenkels veranschaulichen können, wo die Haut unter Marias Fingern etwas nachgibt. Marias geneigtem Kopf ist das Kind freundlich zugewandt. In der Hand hält es eine Weintraube, an der diesmal deutlich ein Weinblatt zusehen ist. In ihrer anderen Hand hält Maria ein kleines Weingefäß, eine „Scherbe“, wie man mundartlich im Rheingau Krüge nennt.
Um 1415 stifteten die Schröter diese anmutige Traubenmadonna als zu verehrende Darstellung ihrer Zunftpatronin.
Die gefährliche Arbeit der Schröter war es, die schweren Fässer aus den Kellern zu “schroten”, zu ziehen oder in sie hinabzulassen.
Zwei Wandgemälde in derselben Pfarrkirche von 1933 illustrieren die Verehrung der „Madonna mit der Scherbe“ durch die Schröter und eine Legende, die von der Schrötermadonna inspiriert ist und schätzungsweise zweihundert Jahre jünger ist als die Figur. Die Legende berichtet von einem Winzer oder Weinschröter, dem ein Weinfass beim Transport unterwegs zerbrach, wodurch der Wein auslief und in der Erde versickerte. Durch seine Anrufung erschien Maria, fügte ihm das Fass wieder zusammen und befüllte es mit ihrem Krug, der Scherbe, auch wieder.
Die zarte farbige Schrötermadonna ist eine Tonfigur! Aus derselben Hohlform (Model) wie diese Hallgartener Madonna entstand eine Figur für das nahegelegene Kloster Eberbach; sie ist heute im Pariser Louvre zu finden.[3]
[1] Bei Darstellungen der Maria mit Kind und Vogel handelt es sich meist um einen Zeisig oder Distelfink, von dem man sagt, dass er Disteln und Dorniges fräße. Dies deutet hin auf die Dornenkrone Christi und seine Passion, so wie der rote Fleck am Kopf des Vogels auf das Blut hinweist.
[2] Bei einer Statue genau dieser Art im Landesmuseum Mainz, beschreibt das Kind gerade das Schriftband, anscheinend mit einem Nagel als Stift, vielleicht mit seinem Blut.
[3] Diese Fassung hat aber nicht (mehr) die Weinattribute. Der Vergleich lehrt, dass man an solchen Tonfiguren vor dem Brennen noch die Haltungen der Hände und beim Kind die Kopfrichtung verändern konnte.