Walter Szepanski: Mit dem Fahrrad auf der „Ruta Vía de la Plata“

Mit dem Fahrrad auf der „Ruta Vía de la Plata“

– ein Tagebuchbericht –

 

 

Nachdem ich im Jahre 2000 mit dem Fahrrad allein vom nördlichen Ruhrgebiet bis nach Santiago de Compostela  unterwegs war (einige Eindrücke von der 2400 km langen Strecke sind in der Kalebasse Nr. 30 nachzulesen), reifte in mir der Wunsch, einen weiteren wichtigen Jakobusweg, den „Camino mozárabe“ – auch „Vía de la Plata“ genannt – als Pilger unter die Fahrradreifen zu nehmen.

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Für die ca. 1200 km lange Strecke hatte ich die Zeit vom 2. bis 26. September 2002 vorgesehen. Dieser Zeitrahmen schien mir auszureichen, um ohne große Eile die „Vía de la Plata“ abzufahren. Die klimatischen Verhältnisse in Andalusien sind zwar im September aus nordeuropäischer Sicht noch sommerlich, aber eine Reise im Oktober war wegen der geringeren Tageslänge nicht mehr ratsam. Gerne wäre ich mit einem Mitpilger auf die Reise gegangen, jedoch passten Zeitpunkt, Alter und Vorstellung für dieses Unternehmen nicht gut zusammen, so dass ich nach dem Studium von Büchern, Bildbänden, Fernseh-Reiseberichten und Texten aus dem Internet schließlich allein am Morgen des 2. September am Flughafen Düsseldorf stand. Schon vor zwei Jahren hatte ich auf meiner Tour nach Santiago festgestellt, dass ein 7- Gang- Rad plus Gepäck für extreme Steigungen wie sie z. B. in den Pyrenäen vorkommen, nicht geeignet ist, um ohne längeres Schieben solche Streckenabschnitte zu bewältigen. Deshalb kaufte ich mir im Herbst letzten Jahres ein 27-Gang-Rad des holländischen Herstellers Koga-Miyata, das diesen Ansprüchen gerecht werden sollte. Neben ausreichendem Bordwerkzeug hatte ich bei dieser Fahrt auch an einige Speichen für etwaige Reparaturen gedacht, da mir bei meiner letzten Tour in Spanien zwei Speichen gebrochen waren.                                                                                    

 

Für den Gabelflug Düsseldorf-Sevilla und Santiago-Düsseldorf hatte ich 365 Euro bezahlt,                                   außerdem für den Radtransport auf dem Hinweg 50 Euro. Für den Rücktransport des Rades genügte eine Reservierung, sofern man im Flughafen von Santiago die Pilgerurkunde vorweisen kann. Dann ist der Radtransport kostenlos. Beim Transport des Rades fordern die Fluggesellschaften in der Regel nur das Querstellen des Lenkers und eine Verringerung des Reifendruckes für den Druckausgleich im Flugzeug. Im eigenen Interesse sollte man aber die Lampen mit geeignetem Schutzmaterial umwickeln, um mögliche Schäden zu vermeiden.

 

 

Die Reise

 

Oft wird die Bezeichnung „Vía de la Plata“ mit der alten römischen Silberstraße von Andalusien zur Nordküste in Verbindung gebracht, tatsächlich aber hat der Name der Strecke mit dem Wort „plata“ (= Silber) nichts zu tun, sondern leitet sich wohl vom arabischen Wort „Bal’latta“ (= breite, gepflasterte Straße) her. Auch im Griechischen bedeutet „Plateia“ soviel wie „Breite Straße“. Seit mehr als zwei Jahrtausenden stellt die Vía de la Plata eine der Hauptverbindungen von Nord- nach Südspanien dar (fast genau auf der Linie der heutigen Nationalstraße N-630). Sie war für die Römer Heerstraße und Handelsweg, für die maurischen Eroberer der Weg nach Norden. Schließlich war sie in der Gegenrichtung dann die Straße der Reconquista und seit dem frühen Mittelalter die Pilgerroute südspanischer Christen nach Santiago de Compostela.

 

Meine Reise war spirituell und kulturell motiviert – gepaart mit etwas Abenteuerlust. Der sportliche Aspekt war für mich eher gering. Gegenüber dem stark begangenen und auch befahrenen „Camino francés“ vor zwei Jahren wollte ich mich der ursprünglichen Form des Pilgerns wieder mehr nähern. Tatsächlich bin ich auf diesem für Pilger einsamen Weg nach Santiago de Compostela nur drei deutschen Pilgern begegnet, alle anderen Pilger waren Spanier. Ein Blick auf die zurückgelegte Strecke sagte mir, dass ich von den knapp 1200 Kilometern etwa 600 km die N 630 /N525 gefahren bin, 400 km Nebenstraßen benutzt habe und rund 200 km auf Feldwegen unterwegs war. Als Führer diente mir das Buch von Alison Raju und Bernhard Münzenmayer „Camino Mozárabe“ (U. Nink-Verlag, Solingen 1999). Da es ähnliche Bücher in deutscher Sprache nicht gibt, wäre eine aktualisierte Auflage begrüßenswert. Man sollte dabei auch die Wünsche der Radfahrer berücksichtigen. Mit diesem Buch habe ich jeweils am Vorabend eines Fahrtages die genaue Route geplant und sie mir dann auf einen Zettel notiert. Außerdem benutzte ich aus dem RV Verlag die beiden Landkarten Nordspanien und Südspanien im Maßstab 1: 300 000.

 

In der Regel bin ich morgens zwischen 6.30 Uhr und 8 Uhr aufgestanden, so dass ich dann gegen 8 oder 9 Uhr auf dem Rad saß. Am Start füllte ich morgens immer meine zwei Wasserflaschen fürs Rad mit je 0, 75 Liter Kranwasser auf. Diese Wasservorräte ergänzte ich meist mit zwei Liter Mineralwasser. Unterwegs kaufte ich für die Mittagsmahlzeit und für das Frühstück am nächsten Morgen in einem Supermarkt Brot, Wurst, Schinken, Käse, Obst, Joghurt und Mineralwasser ein. Eine warme Mahlzeit habe ich regelmäßig abends am Zielort eingenommen. Meistens unterbrach ich meine Fahrt im Laufe des Tages für den Einkauf im Supermarkt, für die Mittagspause (1 – 2 Stunden), zum Fotografieren oder nachmittags für einen „Cafe con leche“ vor einer Bar. Mein Ziel erreichte ich in der Regel zwischen 16 und 18 Uhr. Danach betrug meine reine Fahrzeit zwischen 5 und 7 Stunden. Die tägliche Fahrleistung lag zwischen 60 und 100 Kilometer. Probleme mit den Übernachtungen gab es nicht. Die spanischen Ferien waren zu Ende, und die meisten Pilger schon wieder heimgekehrt. So übernachtete ich auf meiner Reise neun Nächte in einem Hostal (Preise zwischen 10 und 23 Euro), sechsmal in einem Refugio, einmal in einem Kloster und sieben Nächte privat. Für das rasche Auffinden eines Refugios oder des nächsten Hostals half mir oft die sehr freundliche Guardia Civil oder die Policia Local. Mit den an der Volkshochschule erworbenen Spanischkenntnissen war ich in der Lage, wichtige Angelegenheiten auf dem Weg zu regeln. Darüber hinaus halfen mir manchmal Englisch- bzw. Französischkenntnisse in den Städten weiter. Als Wegemarkierung fand ich auf der Via de la Plata in der Regel gelbe Pfeile vor, die – wie mir schien – im Süden häufiger vorkamen. Unterwegs habe ich es aber auch erlebt, dass Kiesel in Pfeilform gelegt den Weg anzeigten oder sogar an Bäumen befestigte gelbe Plastiktüten die richtige Richtung wiesen.

 

 

Aus meinem Tagebuch

 

Montag, 2. September

 

In der Nacht schlafe ich unruhig. Um 4 Uhr klingelt der Wecker. Als mein Freund zum Transferdienst eintrifft, habe ich bereits mein Fahrrad, vier Satteltaschen, eine Reisetasche mit Schlafsack und Isomatte sowie eine Umhängetasche in meinem Auto verstaut. Um 6 Uhr erreichen wir den Flughafen Düsseldorf. Nach dem Entladen fährt mein Freund mein Auto wieder in Richtung Heimat. Das Iberia-Flugzeug ist fast bis auf den letzten Platz besetzt, als es pünktlich um 7. 55 Uhr in den heiteren Morgenhimmel steigt. Nach einer Zwischenlandung in Madrid geht es mit einer anderen Iberia-Maschine weiter in Richtung Sevilla. Bei blauem Himmel erkenne ich unter mir lichte Wälder, Weinberge und abgeerntete Getreidefelder. Um 13.10 Uhr erreiche ich pünktlich Sevilla. Laut Stadtplan dürften die zwölf Kilometer bis zur Innenstadt nicht einfach zu fahren sein, denn diese Strecke ist als Stadtautobahn gekennzeichnet. Aber Jakobus hilft mir: Direkt neben der Schnellstraße verläuft ein kiesbedeckter Wirtschaftsweg stadteinwärts, vorbei an vertrockneten Maisfeldern und abgeerntetem Getreide, durch typisch großstädtische Vororte mit Werksvertretungen und Autoreparaturwerkstätten. Bald geht der Kiesweg in eine asphaltierte Straße über, die schließlich zur Hauptstraße wird mit dichtem Autoverkehr. Das Thermometer zeigt 36 Grad Celsius. Im Altstadtviertel von Santa Cruz finde ich im Hostal Argüelles mein erstes Quartier. Nach einer kurzen Ruhepause mache ich mich zu Fuß auf den Weg, um die Kathedrale aufzusuchen. Im Eingangsbereich der gotischen Kathedrale hole ich mir meinen ersten Stempel für mein „Credential del Peregrino“. Danach esse in einem Straßenlokal und kaufe für mein Frühstück am nächsten Morgen in einem Supermarkt ein. Zurück im Hostal telefoniere ich mit der Heimat und schaue mir die Strecke auf der Karte für den nächsten Tag an.

 

 

Dienstag, 3. September

 

Gegen 4 Uhr werde ich von dem Lärm der Müllabfuhr geweckt. Ich liege wach und überlege, wie wohl der erste Tag verlaufen wird. Da ich mir am Vorabend nicht im Einzelnen die Straßen notiert hatte, die aus der Stadt heraus nach Norden in das kleine Städtchen Camas führen, muss ich häufiger Fußgänger nach der Brücke über den Guadalquivir fragen. Schließlich erreiche ich die stark befahrene N630, die ich aber schon nach sechs Kilometern wieder verlassen kann. In Santiponce besuche ich Italica, die Reste einer römischen Siedlung. Der Feldherr Publius Cornelius Scipio hatte Italica für seine Veteranen gegründet, die vorher am Zweiten Punischen Krieg teilgenommen hatten. Italica ist auch wegen der beiden römischen Kaiser Trajan und Hadrian bekannt, die dort geboren wurden. Beeindruckend ist noch heute das 30 000 Zuschauer fassende Amphitheater. Auf der Weiterfahrt in Richtung Norden registriere ich die großen bewässerten Anbauflächen für Baumwolle, die dahintrocknenden Sonnenblumenfelder, die durch Hitze verbrannten Weiden und den vielen Unrat in den Straßengräben. Der kräftige Westwind ist warm, stört mich aber beim Radfahren nur wenig. Gegen 14 Uhr sind meine drei Liter Trinkwasser fast verbraucht. Ich nehme mir wegen der großen Hitze eine Auszeit von fast zwei Stunden, rolle meine Isoliermatte im Schatten einer Steineiche aus und schlafe fast ein. Als ich später das weiß getünchte Dorf Castilblanco de los Aroyos erreiche, finde ich niemanden, den ich nach dem Weg zum Refugio fragen könnte .Ich spreche einen Mann an, der zufällig aus einem Haus kommt. Er geht in das Haus zurück, bringt einen fotokopierten Ortsplan und Kugelschreiber mit und zeichnet mir den Weg zum Refugio ein, das ich dann auch rasch finde. Mit meinen heute gefahrenen 51 Kilometern liege ich im errechneten Soll.

 

Im Refugio treffe ich einen deutschen Pilger aus Goch am Niederrhein, der zu Fuß auf dem Weg von Sevilla nach Salamanca ist und die Strecke in drei Wochen zurücklegen möchte. Wir sind die einzigen Pilger im Hause, kaufen zusammen ein und speisen anschließend auf der großen Dachterrasse des Refugios mit Blick auf das Dorf, auf dessen Kirche sich mehrere Storchennester befinden. Um 21 Uhr ist Wortgottesdienst in der Dorfkirche. Mehrere Ventilatoren machen die heiße Luft dort etwas erträglicher. Anschließend holen Fußpilger Hans und ich unsere Stempel für das Credential beim Pfarrer in der Sakristei der Kirche. Den Tag beschließen wir bei Wein und Bier, dem Austausch unserer Adressen und einem Gespräch über die Motive der Pilgerreise.

 

 

Mittwoch 4.September

 

Heute Morgen ist es um 8 Uhr bei wolkenlosem Himmel  noch sehr kühl. Ich fahre 29 km über eine einsame Nebenstrecke nach Almadén de la Plata. Dort möchte ich die Dorfkirche besuchen, komme aber in die Kirche nicht hinein, da der Küster nicht zu Hause ist. Es wird bald wieder so heiß wie am Vortag. Ich fahre vorbei an Weiden, auf denen Stiere vor sich hindösen. An der Strecke merke ich, dass die Sierra Morena nicht mehr weit entfernt ist: Kurze steile Anstiege wechseln mit plötzlichem Gefälle. Dazu ist die Strecke sehr kurvenreich. In Real de la Jara übernachte ich im Hause von Signora Conchi–Gil, nur wenige Meter von der Policia Local entfernt. Da ich unterwegs schon die für diese Region typischen schwarzen Schweine gesehen habe, suche ich kurz entschlossen eine Metzgerei auf, um einen Serrano-Schinken zu kaufen und durch den Metzger nach Hause schicken zu lassen. 

 

 

Donnerstag, 5. September

 

Um 8.15 Uhr starte ich über einen Wirtschaftsweg in Richtung Fuente de los Cantos. Die ersten 16 km muss ich sehr konzentriert fahren, da immer wieder Querrillen und lose Steine auf der hügeligen Strecke hohe Aufmerksamkeit verlangen. Die hinter El Real de la Jara liegende Burgruine beeindruckt mich sehr. Im blauen Morgenhimmel ziehen Greifvögel dort ihre Runden. Ringsum ist es totenstill. In Monesterio besorge ich mir noch einen Stempel für den Pilgerausweis, da ich am Vortage keinen erhalten konnte. Unmerklich bin ich in die Region Extremadura hinein gefahren. Gegen 16 Uhr erreiche ich mein Tagesziel Fuente de los Cantos. Ich halte bei der Guardia Civil und bitte um Auskunft über die Lage des Refugios. Zwei ihrer Leute fahren langsam mit dem Jeep bis zum Ziel vor mir her. Fünf Minuten später kommt ein Zivildienstleistender mit seinem Mofa angefahren und öffnet mir die Tür. Ich bin allein in dieser Nacht, kann aber wegen der Hitze und des lauten Lastwagenverkehrs auf der N 630 kaum schlafen. 

 

 

Freitag, 6. September

 

Heute beabsichtige ich, bis Almendralejo zu kommen. Dort erfahre ich von der Ortspolizei, dass es bei der Caritas keine Übernachtungsmöglichkeit mehr gibt. Ich entschließe mich deshalb, weiter zu fahren. Es ist nämlich erst 15 Uhr. Ich bleibe zunächst auf der N 630, die nur streckenweise stark befahren ist. Sie hat einen etwa 1,50 m breiten Pannenstreifen und ihre gleichmäßigen Steigungen sind leicht zu bewältigen. Gleich neben der N 630 ist die Nord- Süd- Autobahn fast fertig. Calzadillo de los Barros besitzt im Wappen des Ortes eine Muschel und das Schwert von Santiago. In Richtung Norden wird die Farbe der Erde rot. Ich fahre vorbei an Weinbergen, Olivenhainen und abgeernteten Getreidefeldern. Gegen 17 Uhr erreiche ich die Stadtgrenze von Merida. Ich schiebe mein Rad über die alte gepflasterte Römerbrücke und gelange nach Überquerung des Rio Guadiana an die alte Stadtmauer. Ich möchte zum Hostal Nueva Espana und komme mitten in der Stadt am Tempel der Diana vorbei, der aber derzeit mit einem Bauzaun eingerüstet ist. Nach 99 km finde ich heute in der Nähe des Bahnhofs mein Quartier.

 

Ich mache noch einen Bummel durch die Fußgängerzone. Die Straßencafes sind an diesem schönen Abend voller Leben. Auf der Plaza spielt eine Band. Ich besuche um 21 Uhr die hl. Messe. Die Kirche ist voll. Jedoch dringen die Rhythmen der Band so sehr ins Gotteshaus, dass sie den Gesang der Gläubigen fast übertönen. Die Frauen versuchen, mit ihren Fächern die warme Luft etwas zu vertreiben. Mir ist aufgefallen, dass Gottesdienste in Spanien in der Regel ohne Messdiener und Orgelmusik stattfinden.

 

Samstag, 7. September

 

Nach erquickendem Schlaf breche ich um 8.15 Uhr in Merida auf (Übernachtung: 22,24 Euro). Kurz vor dem Stadtausgang fotografiere ich die alte römische Wasserleitung. Eine Frau, die mit ihrem Pudel „Gassi“ geht, befrage ich nach dem Weg zur Embalse de Proserpina (Stausee). Ich muss die Eisenbahnlinie Sevilla–Caceres unterqueren und fahre über eine frisch geteerte Nebenstraße, die mit einigen kräftigen Steigungen gespickt ist, aber auch zum Schluss ein herrliches Gefälle aufweist. Der Stausee besitzt – wie wohl immer im September – einen geringen Wasserstand. Um den weiteren Weg nach Aljucén zu erfahren, muss ich – so früh am Morgen – einen einsamen Jogger ansprechen. Der Jogger schickt mich schließlich auf eine kaum befahrene schmale Asphaltstraße. Sie windet sich kurvenreich und hügelig an mehreren aufgegebenen landwirtschaftlichen Gehöften vorbei. Dem Boden sieht man an, dass er nicht viel hergibt: Granitblöcke, Steineichen und verdörrtes Gras. Hier und dort höre ich den Gesang von Singvögeln oder ein paar krächzende Elstern. Mitten in dieser Landschaft taucht plötzlich ein Moto-Cross-Gelände auf, wo ich aber keine Menschenseele entdecken kann. In Aljucén treffe ich vor einer Bar einen jungen Deutschen aus Flensburg. Er erzählt mir, dass man frühmorgens an der „Embalse de Proserpina“ Fischadler beim Fischen und Störche in größerer Zahl beobachten kann. Ab Aljucén bin ich wieder auf der N 630, wo es heute keinen Lastwagenverkehr gibt. Ich komme gut vorwärts. Bei einer Zufahrt zu einem Landgut mit einer riesigen Feigenplantage mache ich Mittagspause. Zu meiner Mahlzeit gehören Brot, Käse, Joghurt und eine Flasche „Cerveza sin alc“. Als ich Caceres erreiche, wird mir sofort klar: Hier möchte ich einmal Urlaub machen! In der Altstadt  begegnet man dem Atem der Geschichte auf Schritt und Tritt. Die alten Gebäude machen auf den Besucher einen vorzüglich erhaltenen Eindruck. Eine zum Teil römische und arabische Ummauerung ist noch vollständig erhalten. Die Besiedlung des Altstadthügels soll bis in die Zeit der Keltiberer zurückreichen. Als ich zur Kirche Santa Marta gelange, komme ich mir wie in einem Film vor: Eine Hochzeitsgesellschaft von etwa 300 Personen hat sich in mehreren Gruppen versammelt, um das Hochzeitspaar zu erwarten. Hier scheint sich spanischer Landadel getroffen zu haben, wie man es heute nur noch selten erlebt: Frauen, geschmackvoll gekleidet in langen, eleganten Kleidern und mit Stolen eingehüllt, die Kinder fein rausgeputzt, die Männer in Smoking. Aus dem offenen Kirchenportal ertönt Händels ,,Halleluja“.  Nach dieser schönen Abwechslung fahre ich weiter über eine Nebenstrecke bis Casar de Caceres und erlebe auf diesen 12 Kilometern eigentlich das, was ich mir unter der Region Extremadura immer vorgestellt hatte: eine weite, offene und hügelige Landschaft, nur dünn besiedelt mit extensiver Viehhaltung.

 

Am Ortseingang von Casar de Caceres spreche ich einen Polizisten vor dem Schwimmbad wegen des Refugios an, der mich weiter in Richtung Ortsmitte schickt. Dort werde ich an der Plaza schon von einem anderen Polizisten erwartet. Er verlangt meinen Pilgerausweis zu sehen, geht damit in seine Dienststelle und bringt ihn mir gestempelt zurück. Der Polizist schließt mir die Tür zum Refugio auf und überlässt mir den Schlüssel. Ich trage mein Gepäck und mein Fahrrad in das erste Geschoss des Hauses und kann unter den 14 Betten, Duschen und Waschbecken auswählen, denn ich bin heute der einzige Pilger hier. Das Wetter war tagsüber heiter gewesen, bei Tagestemperaturen von ca. 30 Grad, jedoch blies seit Mittag ein heftiger Seitenwind. 91 km habe ich heute zurückgelegt.

 

 

Sonntag, 8. September

 

Heute bin ich bereits den siebten Tag unterwegs. Um 9 Uhr soll im Ort eine hl. Messe sein. Vor der Kirche kommt ein älterer Priester auf mich zu, der mich als deutschen Pilger einschätzt und mich mit einem ,,Guten Morgen“ begrüßt. Er erzählt mir, dass er mehrere Jahre in Deutschland gelebt habe und jetzt hier aushelfe. Vor Beginn des Gottesdienstes stellt er mich der versammelten Gemeinde vor, kommt anschließend vom Altar zu mir und erzählt mir, was er den Gläubigen mitgeteilt hat. Pfarrer Severino predigt sehr engagiert und südländisch temperamentvoll. Mimik, Gestik und Sprachtempo werden mir noch lange in Erinnerung bleiben. Zu Beginn der Opferung gibt er mir einen Gebetszettel mit einem Anliegen für einen Priester, der sich sehr in dieser Gegend für die Bildung der Landbevölkerung und der Arbeiterschaft eingesetzt hat. Pfarrer Severino erzählt mir von seinen Plan, sich über seinen Bischof für die Seligsprechung dieses Priesters in Rom einzusetzen. Da in der Extremadura 20- 25 Prozent der Bevölkerung arbeitslos sind, hält Pfarrer Severino am Ende der Messe für die Armen der Gemeinde noch eine Kollekte ab. Gegen 10.30 Uhr will ich das Refugio verlassen und den Schlüssel bei der gegenüberliegenden Wache der Polizei abgeben. Offenbar hat die Polizei hier am Sonntagmorgen keinen Dienst., denn die Eingangstür ist verschlossen. Ich spreche deshalb mit einigen Männern an der Plaza – nach meiner Einschätzung Männer aus einem Altersheim – und frage, wo ich den Schlüssel abgeben kann. Im Laufe des Gespräches entreißt mir ein offensichtlich verwirrter Mann den Schlüssel. Er läuft damit, ohne seine Absicht anzukündigen, zu der Bar, wo ich noch am Vorabend gegessen hatte und wirft den Schlüssel durch das Gitter der noch nicht geöffneten Bar. Die anderen Männer lächeln etwas verlegen und mitleidig über den Mann. Ich verlasse Casar de Caceres, während die ersten Regentropfen fallen. Der stärker werdende Regen und kühleren Temperaturen veranlassen mich, meinen Regenponcho überzuziehen. Mit dem Regenponcho fahre ich nur ungern, weil er dem Wind viel Angriffsfläche bietet; aber von unten sorgt er für eine bessere Lüftung als eine Regenjacke. Der prasselnde Regen macht die herbe Schönheit der Extremadura erst richtig deutlich. Am Samstag habe ich versäumt, meine Lebensmittelvorräte zu ergänzen. Also knurrt mir jetzt der Magen. Mit Tempo 50 fahre ich durch die Flusstäler des Rio Altamonte und des Rio Tajo. Beide Flüsse sind hier zu riesigen Stauseen aufgestaut, man erkennt kein fließendes Gewässer mehr. Nach 34 km Fahrt auf der N 630 erreiche ich Canaveral, wo ich für 6,60 Euro ein Tagesmenü bestelle. Es gibt Hühnersuppe mit Nudeln, mehrere große Scheiben Rinderbraten, Pommes frites und Ananas als Nachtisch. Dazu trinke ich ein Bier. Auch nach der einstündigen Mittagspause regnet es noch. Unterwegs halte ich immer wieder an verschiedenen Bars an, trinke eine Cola oder einen „Cafe con leche“ in der Hoffnung, dass es nach Verlassen des Lokals nicht mehr regnen wird. Da mein Kartenmaterial zu ungenau ist, um bei dem schlechten Wetter mein Tagesziel Galisteo auf kürzestem Wege zu erreichen, frage ich einen Tankwart. Er spricht von 10 km bis Galisteo, aus denen später aber 22 km werden sollten. Ich schimpfe nach einiger Zeit laut vor mich hin, habe aber keine andere Wahl, als die beschriebene Strecke zu fahren. Auf der steilen Straße muss ich mein Rad eine längere Zeit schieben, dann aber kann ich bei Tempo 60 einige Kilometer rollen. Bei Galisteo werden vor allem Mais, Peperoni und Tabak angebaut. Der Tabak ist zum großen Teil in offenen Scheunen aus gemauerten Gitterziegeln untergebracht. Galisteo, das ich gegen 19 Uhr erreiche, liegt auf einem steilen Bergkegel, besitzt Stadttore und ist mit Mauern umgeben. Bei Pedro Serano an der Plaza hole ich mein „Sello“ .Zwei junge Spanier sind auch in seiner Wohnung und verraten mir, dass wir in dieser Nacht ,, Companeros“ seien. Sie selbst wollen an diesem Sonntagabend noch einkaufen und zeigen mir das Geschäft, wo sie sich aufhalten wollen, bis ich komme. Sie erzählen mir, dass das Refugio nur 4 Betten habe, ein kleines Häuschen sei und am Fuße des Bergkegels außerhalb der Stadt in der Nähe des Campingplatzes liege. Den Schlüssel hätten sie auf einer Mauer unter Dachlatten versteckt. Ich mache mich auf den Weg und suche mit meiner Taschenlampe auf einem Schuttgelände zwischen Bäumen und Wasser zuerst das kleine Häuschen und dann den besagten Schlüssel zum Refugio. Im Geschäft oben an der Plaza treffe ich die beiden Spanier wieder. Es ist voll wie an Werktagen. Hier kauft offenbar die Bevölkerung des schmucken Landstädtchens Dinge des täglichen Bedarfs ein. Auch wir kaufen Lebensmittel und sitzen im Refugio zum Abendessen zusammen. Ich stelle laut Tacho fest, dass ich – heute sicher mit vielen Umwegen – 84 km gefahren bin.    

 

 

Montag, 9. September

 

Die beiden Spanier sind bereits um 8. 30 Uhr zu Fuß aufgebrochen, ich erst eine Stunde später, weil ich meine getrockneten Kleidungsstücke erst sorgfältig geordnet und  in Plastiktüten verstaut habe, bevor sie in meine Satteltaschen kommen. Danach fege ich noch in allen Räumen des Refugios und breche auf. Der örtliche Bäcker weist mir den Weg aus dem Ort. Unterwegs überhole ich die Spanier, mit denen ich übernachtet habe. Beide haben mir am Vorabend angeraten, nicht den von mir notierten Weg zu fahren, da er für Radfahrer sehr schwierig sei. Also weiche ich auf eine Hauptstraße aus mit zum Teil heftigen Steigungen in Richtung Plasentia. Dort besuche ich die Kathedrale. In der Anbetungskapelle vor dem Allerheiligsten sitze ich auf einer gepolsterten Bank bei meditativer Orgelmusik vom Band. Beim Gang zum Diözesanmuseum komme ich am Kreuzgang vorbei und mache ein paar Fotos von den Storchennestern der Kathedrale. Im Museum selbst entdecke ich in einer Vitrine einen Jakobus.

 

 

Dienstag,10. September

 

Um 6.30 Uhr wache ich auf. Zu meiner Überraschung ist das Zimmerlicht in meinem Hostal in Aldenueva über Nacht ausgefallen. Da ist meine Taschenlampe Gold wert, die ich gewöhnlich vor dem Einschlafen in Reichweite abstelle. Die zum Teil noch feuchten Sachen vom Vortage sind nun alle wieder trocken. Der Wirt nimmt für die Übernachtung nur 10 Euro. Dafür ist die Badewanne, in der ich mich geduscht habe, aufgrund ihrer Form für Knochenbrüche wie geschaffen. Eigentlich  habe ich vor dem heutigen Streckenabschnitt ein wenig Angst. Schließlich muss ich von Aldenueva, das 529 m hoch liegt, innerhalb weniger Kilometer bis zur Puerto de Bejar auf  1184 Meter Höhe. Ans Fahren ist an diesem Morgen kaum zu denken, da zum einen die N 630 steil ansteigt und kurvenreich ist, zum anderen die Straße schmaler wird und an diesem Morgen ein reger Verkehr herrscht. Mitunter quäle ich mich fahrend mit 6 bis 8 km pro Stunde bergan. In Banos de Montemayor – seit römischer Zeit bekannt für seine Heilquellen – gehe ich zum Postamt, um Briefmarken für die gestern in Plasentia geschriebenen Karten zu besorgen und auf den Weg zu bringen. Am Dorf Hervas, mit seinem bekannten mittelalterlichen Judenviertel, fahre ich vorbei. Ich verlasse die Extremadura gegen Mittag und radle nun in die Region Kastilien und Leon mit der Provinz Salamanca. Mit diesem Übergang lässt sich eine veränderte Vegetation feststellen. Waren bisher Stein- oder Korkeichen dominant, so sehe ich unterwegs nun häufiger Linden, Kastanien und Wildkirschbäume. Ich gewinne den Eindruck, dass die Landschaft, in die ich hineinfahre, grüner wird, obwohl das Gelände zwischen 900 und 1000 m hoch liegt.

 

In Guijuelo biege ich von der N 630 ab. Ich kaufe noch für die Mittagspause in einem Supermarkt Brot, Käse, Wurst, Getränke, Obst und Joghurt ein und mache es mir eine Stunde lang auf der Plaza gemütlich. Über eine kaum befahrene Nebenstrecke erreiche ich am Nachmittag Fuenterroble de Salvatierra, das 955 m hoch liegt. Ich frage nach dem Pfarrhaus, das gleichzeitig Refugio sein soll. Ein Bauarbeiter beschreibt mir den Weg dorthin. Während ich mein Rad gerade in den Hof des Refugios schieben will, um es dort abzustellen, kommt Don Blas zu mir, begrüßt mich freundlich und bittet mich, mein Gefährt in das Gebäude zu bringen. Da ich um 16 Uhr der einzige Gast hier bin, macht er mich mit den Räumlichkeiten des Hauses vertraut. Ich kann nicht einschätzen, wo sich der Gästeteil des Refugios und wo der Privatbereich von Don Blas befindet. Denn als ich gegen 16.30 Uhr mein Credential abstempeln will, finde ich im mutmaßlichen Gästeteil Don Blas auf einer Bank liegend bei seiner Siesta. Gegen Abend bietet sich ein Mann an, mit dem Auto ins Nachbardorf Los Santos zur Abendmesse zu fahren. Ich fahre mit. Auf dem Rückweg werde ich mit einem anderen Deutschen zusammen von anderen Leuten zurückgefahren. Der etwa 25- jährige Mann erzählt mir, dass er schon vom „Camino francés“ komme, arbeitslos sei und jetzt noch den Weg nach Sevilla zu Fuß machen wolle. Beide Wege möchte er zusammen in fünf Monaten schaffen, um dann wieder mit dem Bus nach Hause zu fahren. Während sich am Abend noch einige ältere Gäste aus Valencia mit dem Auto einfinden, sagt ein Arzt aus Salamanca zu mir, dass ich wie ein typischer Deutscher aussehe.

 

 

Mittwoch, 11. September

 

Vor der Abreise frühstücke ich noch zusammen mit dem jungen Deutschen¸ den ich am Vortage kennen gelernt habe und der sich anschließend rasch auf den Weg macht. Als ich das Haus mit dem Rad verlassen will, bittet mich Don Blas mit seinem Amtsbruder, der am Vorabend in Los Santos die hl. Messe gefeiert hatte, zu sich, um bei einem „Cafe con leche“, Keksen und Weintrauben aus eigener Ernte noch ein wenig zusammenzusitzen. Auf meine Frage, wo ich in Salamanca am besten zwei Tage preiswert wohnen kann, gibt er mir ein Kärtchen des Hostals Bartez, das auf halbem Wege zwischen der berühmten Plaza und der Kathedrale liegt. Wir verabschieden uns herzlich. Nachdem ich noch Fotos vom Refugio gemacht habe, sitze ich dann bald im Sattel und folge dem landwirtschaftlichen Weg, den der Deutsche am Vortage gekommen ist. Schon bin ich vielleicht 4 Kilometer auf diesem Weg gefahren, als auf dem von ca. 1, 50 m hoch umsäumten Weg mit Stacheldrahtzäunen plötzlich ein Stier auftaucht und auf mich zuläuft. Da ich es nicht mit diesem Kraftpaket aufnehmen will, bleibt mir nichts anderes übrig, als schleunigst in dieser Einsamkeit das Rad zu drehen und Reißaus zu nehmen. Der weitere Weg in Richtung Salamanca verläuft über eine schlecht asphaltierte hügelige Nebenstrecke, auf die an dem heißen Tag kein Schatten fällt. Meine vier Liter Wasservorrat sind gegen Mittag fast schon aufgetrunken. Circa 20 km vor Salamanca geht das Weideland in gepflügte Ackerflächen über, dabei ist der Boden hellbraun, mitunter rötlich getönt. In einem Vorort von Salamanca kaufe ich Lebensmittel ein und lasse mich auf einem Hügel vielleicht 10 km vor Salamanca zur Mittagspause nieder. Der Blick fällt auf die hochgelegene Stadt, überragt von der Kuppel der Kathedrale. Deutlich merke ich, wie die Stadt aus allen Nähten platzt, denn rund um den alten Stadtkern wird kräftig gebaut. Ich halte auf die Kathedrale zu, nachdem ich den Rio Tormes überquert habe und finde auch rasch die Pension Bartez, wo ich ein Doppelzimmer zum Preis von 22 Euro pro Tag für zwei Tage beziehe. Nach dem Duschen wechsele ich meine Radlerkleidung gegen ein frisches T-Shirt, Jeans und Straßenschuhe. Ich lege einen neuen Film in meine Kamera ein und besichtige die Stadt. Nach 22 Uhr gibt es ein fetziges Rockkonzert auf der Plaza, aber die Musik ist so laut, dass mir die Ohren Weh tun. Ich beobachte außerdem viele Bettler, die an den Tischen der Straßencafes vorbeikommen und um eine Gabe bitten. Andere wiederum haben sich die Eingänge der Kirchen zum Betteln ausgesucht. Als ich um Mitternacht in meine Pension zurückkehre, schreibe ich u.a. noch in mein Tagebuch, dass ich heute 63 km gefahren bin.

 

 

Donnerstag, 12. September

 

Morgens um 7.30 Uhr finde ich weder Licht noch warmes Wasser im Etagenbad vor. Ich nehme an, dass der Inhaber der Pension verhindern möchte, dass von den noch Schlafenden jemand gestört wird, denn Salamanca hat seine Fiesta und viele Gäste dürften wahrscheinlich spät nach Hause gekommen sein. Dennoch dusche ich im Halbdunkel, da ein Fenster zum Hinterhof etwas Licht in das Bad eindringen lässt. Heute Morgen besuche ich noch einmal die Kathedrale und auch ihre alte Vorgängerin. Wie schon im Führer von Raju und Münzenmayer angekündigt, finde ich die Santiagokirche auch an diesem Morgen verschlossen vor. Ich schaue mir in Ruhe die alte römische Brücke über den Rio Tormes an und besichtige anschließend das Jugendstil-Museum. Heute nehme ich mir auch die Zeit für eine Stunde Mittagschlaf, den ich sonst zu Hause gewohnt bin. Einen Großteil meiner Landkarten sowie Wegbeschreibungen bringe ich am Nachmittag zur Post, um sie nach Hause zu schicken. Ein teurer Spaß für 15,15 Euro, aber die Berge Galiciens stehen mir noch bevor und da geht es darum, möglichst viel Gewicht einzusparen. An diesem Tag schaue ich mir auch noch St. Esteban an, eine Kirche mit Kreuzgang im plateresken Stil. Ich bin überwältigt von der Schönheit der Wandmalereien in der Apsis der Kirche. Etwas wehmütig gehe ich am Abend noch einmal zur Plaza, die jetzt voll von jungen Leuten ist. Ich erlebe dort noch einmal eine peruanische Band.

 

 

Freitag, 13. September

 

Heute morgen fragt mich der Wirt, ob ich duschen möchte. Wahrscheinlich hat er gegenüber dem Vortag ein schlechtes Gewissen, als weder Licht noch warmes Wasser im Bad vorhanden waren. Nach dem Frühstück verabschiede ich mich von ihm und schiebe mein Rad durch die Fußgängerzone. Auf  der Plaza steht gegen 8 Uhr eine große Zahl von Lieferfahrzeugen für die vielen Cafes und Restaurants. Große Paletten mit Bier, Cola, Milch, Gemüse und Kartoffeln werden entladen. An einem Bankautomaten ziehe 150 Euro und finde rasch die Ausgangsstraße N 630 nach Zamora. Es ist dunstig an diesem Morgen, einige Leute sehe ich sogar mit Schirmen in der Stadt. Außerhalb der Stadt kann ich kaum 200 m weit sehen, erst gegen Mittag reißt die Bewölkung auf, und es wird schnell 26 bis 28 Grad warm. Die N 630 ist anfangs sehr voll, erst nach der Abzweigung in Richtung Valladolid bzw. hinter dem Fußballstadion lässt der Autoverkehr etwas nach. Dann bin ich bald auf dem Pilgerweg von Castellanos de Villiquierda nach Calzada deValdunciel und fahre über einen Kiesweg. Die Fahrt geht im wesentlichen über eine Hochfläche, auf der Sonnenblumen, Zuckerrüben und Mais wachsen. Dazwischen liegen immer wieder abgeerntete Getreidefelder und lichte Eichenwälder. In El Cubo de Tierra del Vino (846m) lege ich vor der Kirche meine Mittagspause ein. Auf einer Bank genieße ich die angenehme Sonne. Dann fahre ich ohne größere Aufenthalte weiter bis Zamora (658 m). Etwa 20 km vor der Stadt wird die Strecke wieder hügeliger. In Zamora frage ich in der Nähe der Plaza nach einem Hostal und habe gleich Glück bei meiner Suche. Anschließend sehe ich mir die Stadt an. Laut Führer ist Zamora während der Völkerwanderung und der maurischen Invasion immer wieder heftig umkämpft gewesen. Genau so wie Salamanca und Compostela hielt die Stadt dem Ansturm de Mauren nicht stand. Im Mittelalter erlebte Zamora seine Blütezeit. Aus der regen Bautätigkeit stammen 23 romanische Kirchen und machen den Ruf der Stadt als ,,Museum der Romanik“ aus. Während des Stadtbummels mache ich Fotos vom Duero und der Kathedrale. Sie ist nach 17 Uhr geöffnet. Hohe Eisengitter trennen das Chorgestühl und den Altarraum für den Gottesdienst vom gemeinen Volk ab. Den Stempel für meinen Pilgerausweis hole ich mir im Kathedralmuseum. Hier gibt es herrliche Gobelins mit Motiven der griechischen Mythologie, aber auch mit Hannibals Zug über die Alpen zu sehen. Der heutige Streckenabschnitt mit 69  Kilometern war angenehm zu fahren.

 

 

Samstag, 14. September

 

Die Nacht im Hostal an der Plaza in Zamora ist sehr unruhig. Noch gegen  3.30 Uhr dröhnt

Musik aus einer Disco. Als ich am Morgen aus der Stadt herausfahre, kommen  aus einer anderen Disco noch um 9. 30 Uhr die letzten Gäste herausgekrochen.  Die Ausfallstraße von Zamora zieht sich kilometerweit mit verschiedenen Autoreparaturwerkstätten dahin. Das Land in Richtung Norden ist relativ flach, der Wind kommt heute überwiegend aus östlicher Richtung. Schon gegen 14 Uhr erreiche ich Tabara, ein verlassenes Nest, eigentlich mein Tagesziel. Aber was soll ich so früh in einem solch kleinen Dorf? Also fahre ich weiter in Richtung Santa Marta de Tera, wo es ein Refugio geben soll. Unterwegs sehe ich abgeerntete Getreidefelder, auf denen häufig Schafherden weiden. Aber auch an Maisfeldern und Weinanbauflächen fahre ich vorbei. Zwischen Tabara und Santa Marta de Tera durchquere ich ein großes einsames Naturschutzgebiet, wo Eichen, Kiefern und Heidekraut gedeihen.

Gegen 18 Uhr ist Santa Marta de Tera erreicht. Als ich mich in einer Bar nach der Lage des Refugios erkundige, werde ich von der Tochter des Barbesitzers gleich dorthin geführt. Das Refugio befindet sich an der Plaza in der Nähe der Kirche. Ich falle fast aus allen Wolken, als ich hier kein einziges Bett vorfinde – wohl einige frisch gestrichene Räume, saubere Duschen und Toiletten. Der Eingangsraum des Refugios ist groß, hoch und nach meinem Empfinden überdimensioniert. Für die Nacht richte ich mich in einem der Schlafräume so ein, dass ich auf dem Marmorboden zunächst einen Pappkarton ausbreite, darüber meine Isoliermatte ausrolle und schließlich meinen Schlafsack darauf lege. Als Kopfkissen dient eine volle Satteltasche meines Reisegepäcks. Auf dem Weg zur Vorabendmesse entdecke ich vor der romanischen Kirche eine schöne Statue des Santiago Peregrino. Gegen Abend kommt noch ein spanisches Pärchen ins Refugio und leistet mir Gesellschaft. Wir essen zusammen, nachdem wir vorher in einem Dorfladen eingekauft haben, und tauschen unsere  Reiseerfahrungen aus. Sie beraten mich für die Fahrstrecke des morgigen Sonntags. Beide sind keine Pilger. Sie geben an, aus der Nähe zu sein, und wollen mit ihren Rädern zu einer Party fahren. Ich selbst fühle mich trotz der heute gefahrenen 92 km recht frisch.

 

 

Sonntag, 15. September

 

Gegen 7 Uhr stehe ich auf, packe meine Sachen und frühstücke bei Taschenlampenlicht. Nach Verabschiedung von dem spanischen Pärchen, das es an diesem Morgen etwas langsamer als ich angehen lässt, sitze ich um 8.45 Uhr im Sattel. Der Himmel ist bedeckt bei angenehmen Temperaturen und Windstille. Gestern bin ich wegen des Refugios in Santa Marta de Tera 9 km Umweg gefahren, die ich nun wieder zurückradeln muss. Die N 525 ist frei von Autos an diesem Morgen. In Mombuey kaufe in einem Lebensmittelgeschäft ein. Die Strecke ist hügelig, aber insgesamt ohne große Anstrengungen zu befahren. Ich radele heute durch fruchtbares Land, wo Getreide, Wein und Kürbisse angebaut werden. Dazwischen gibt es aber immer wieder Abschnitte mit Eichenbeständen, Ginster und Ödland. In Puebla de Sanabria finde ich in einem Hostal in der Nähe des Rio Tera ein Zimmer mit Dusche für 18 Euro. Hier erhalte ich auch den Stempel für meinen Pilgerausweis. Nachdem ich einige Teile meiner Wäsche durchgewaschen und zum Trocknen aufgehängt habe, mache ich mich über die Brücke des Rio Tera auf den Weg zur Altstadt. Sie liegt malerisch auf einem Bergkegel und ist auch über einen Treppensteig zu erreichen. Die Altstadt überrascht den Besucher durch ihre liebevolle Restaurierung und macht einen gediegenen Eindruck. Das Abendessen nehme ich in meinem Hostal ein. Nebenan in der Bar sitzen die Männer beim Kartenspiel an den Tischen, andere trinken Bier oder Wein am Tresen; dazwischen beobachte ich Frauen, die sich angeregt unterhalten. Ein lauter Fernseher und ein aufblinkender Glücksspielautomat finden keinerlei Beachtung. Mein Kilometerzähler zeigt mir an, dass ich heute 64 km gefahren bin und hinsichtlich der vorgesehenen Zeit gut im Soll liege.

 

 

Montag, 16. September

 

Drei Faktoren sollten heute meinen Tag bestimmen: Wetter, Geld und Berge. Gegen 8.45 Uhr sitze ich auf meinem Rad und nehme mir vor, meine Kräfte gut einzuteilen, um heil über die Pässe nach Galicien zu kommen. Nach der Fahrt über den Rio Tera habe ich die breite N 525 fast für mich alleine. Offenbar hat es in der letzten Nacht etwas geregnet, denn die Straße ist nass und das Wetter kühl. Die Straße verläuft hinter Puebla de Sanabria zunächst einige Kilometer eben, steigt dann allerdings zum Padornelo-Pass auf 1368 m gleichmäßig steil an, so dass ich den kleinsten Gang fahren muss und über 7 bis 8 km pro Stunde nicht hinauskomme. Dabei gönne ich mir immer wieder kurze Pausen oder schiebe meinen Drahtesel einige hundert Meter. Ich höre den Lärm fahrender Autos auf der parallel zur N 525 verlaufenden Autobahn nach Galicien. Je höher ich in Richtung Padornelo komme, desto schlechter wird die Sicht. Schließlich wird es so neblig, dass ich keine 50 Meter mehr weit sehen kann. Außerdem beschlägt meine Brille in kürzester Zeit, und ich schwitze stark. Gut, dass ich vier Liter Wasser am Morgen mitgenommen habe. Vor dem Padornelo geht es zunächst über einen 330 m langen Viadukt, wenig später führt die Straße durch einen etwa 400 m langen unbeleuchteten Tunnel. Als ich die gespenstische Tunnelfahrt hinter mir habe, traue ich meinen Augen nicht: Der dichte Nebel ist wie weggeblasen, dafür schüttet es jetzt aber wie aus Gießkannen. Ich ziehe schnell meine Regenjacke an und werfe meinen Poncho über, lasse mich aber von der Weiterfahrt nicht abhalten. Nach herrlicher Talfahrt komme ich nach Lubian (980 m). Hier versuche ich Geld mit meiner EC- Karte zu ziehen, was aber nicht möglich ist, da der Automat meine Karte nicht annimmt. Die Straße steigt nochmals bis zur Portela da Canda auf 1268 m an. Hier muss ich parallel zur Autobahn durch einen weiteren Tunnel fahren. Bei Tempo 50 bis 60 habe ich eine tolle Abfahrt, jedoch muss ich wegen des starken Regens höllisch aufpassen, dass mir mein Rad nicht in einer Kurve wegrutscht. In einer Fernfahrerkneipe esse ich zu Mittag. Das Lokal ist voll von Brummi-Fahrern. Ich selbst esse Fischsuppe, Stockfisch mit Kartoffeln und Joghurt. Dazu gibt es 1,5 Liter Mineralwasser und Brot. Der Preis ist günstig: 7,20 Euro. Da ich nur noch Geld für ein weiteres Essen in der Tasche habe, versuche ich auf den Dörfern bei den Kassen an Geld zu kommen. Aber es gibt hier natürlich keine Bankautomaten. Man rät mir in den Kassen weiterzufahren und es im nächsten Dorf noch einmal zu versuchen. Das passiert mir mehrmals. An der Nationalstraße gibt es keine Refugien, wo ich notfalls kostenlos übernachten könnte, obwohl ich bereits in Galicien bin und an der N 525 überall das Sternenzeichen für den Camino in Richtung Santiago de Compostela sehe. In einer Kasse sagt man mir, dass es in Verin, der nächst größeren Stadt, mehrere Banken mit Geldautomaten und Hostals gäbe. So rolle ich mit Tempo 50 bis 60 vierzehn Kilometer zu Tal und erreiche in der Dämmerung die Stadt. An einem Bankautomaten kann ich schließlich 100 Euro ziehen. Ich warte unter der Überdachung der Bank einen heftigen Schauer ab. Nach etwa 10 Minuten kommt eine ältere Frau mit zwei Schirmen aus einem Haus. Einen spannt sie für sich selbst auf, den anderen drückt sie mir in die Hand. Ich laufe etwa 200 m mit meinem Rad und dem aufgespanntem Schirm hinter ihr her. Als sie abbiegen will, klopfe ich ihr von hinten behutsam auf die Schulter. Sie sagt mir etwas Galicisches, was ich nicht verstehe, deutet dann aber durch eine Geste an, dass ich den Schirm behalten darf und für sie beten soll. Sie dürfte mich wohl als Pilger mit meiner Muschel an der Reisetasche auf dem Weg nach Compostela erkannt haben. Den Schirm kann ich gleich am Abend während des heftigen Regens auf dem Weg vom Hostal zum Supermarkt gut gebrauchen. Ich denke mir im Stillen: Wie wunderbar, Jakobus ist mit mir unterwegs! In mein Abendgebet schließe ich natürlich die gute Frau von Verin mit ein. Heute Abend bin ich sehr müde. Nebel, Regen, erhebliche Steigungen, an denen ich zum Teil schieben musste, sind daran schuld. Abfahrten, die mir volle Konzentration und fahrerisches Können abverlangen, haben dazu geführt, dass ich mein Zimmer an diesem Abend nicht mehr verlasse. 96 zurückgelegte Kilometer sind für heute mehr als genug.

 

 

Dienstag, 17. September

 

Bei bedecktem Himmel und mäßigen Temperaturen starte ich gegen 9.45 Uhr. Wie am Vortag gibt es auch heute Morgen immer wieder gewittrige Schauer. Die ersten 6 km fahre ich auf ebener Strecke aus Verin heraus, dann kommen 7 bis 8 Prozent Steigung auf 8 km, die ich teilweise schieben muss. Auffallend sind die kleinen Landparzellen in Galicien, die wohl aufgrund des hiesigen Erbrechtes entstanden sind, im Vergleich zu den großen Landgütern in Andalusien, der Extremadura oder in Kastilien-Leon. Die Kleinbauern bauen das an, was man für die Eigenversorgung an Gemüse braucht: Bohnen, Melonen, Tomaten, Wein, Kartoffeln und Mais. Offenbar sind die klimatischen Verhältnisse hier ähnlich wie bei uns zu Hause. Die Galicier bauen ihre Häuser meistens sehr stabil. Das obligatorische Baumaterial ist der hier vorkommende Granit. In der freien Landschaft wachsen Eichen, Ginster und in verlassenen Gebieten auch große Esskastanien. In den höheren Lagen kommen auch Kiefern und Eukalyptusbäume vor. An der N 525 fallen mir viele verlassene und verfallene Gehöfte auf. Häufig stehen in den anliegenden Gärten Obstbäume, die brechend voll hängen mit Birnen oder Äpfeln. Hier decke ich meinen Tagesbedarf an Obst. Immer wieder gehen im Tagesverlauf Schauern nieder. Manchmal stelle ich mich irgendwo unter oder trinke mir in einer Bar einen „Cafe con leche“. Die letzten 10 km nach Ourense rase ich mit Tempo 60 bis 70 zu Tal. Die weite gebirgige Landschaft hat es mir angetan. Einmal fotografiere ich ein Steinkreuz, auf dessen Vorderseite Jesus am Kreuze hängt und auf dessen Rückseite Maria zu sehen ist. In Ourense finde ich im Hostal ,,Candida“ in der Nähe der Plaza major für zwei Nächte ein schönes Doppelzimmer, das pro Tag 17,50 Euro kostet. Das Personal ist hier sehr freundlich. Um 20 Uhr gehe ich in der Kathedrale zur Messe. Den Stempel für mein Credential hole ich mir in der Sakristei der Kathedrale. Mit meinen heute gefahrenen 73 Kilometern bin ich wegen der gebirgigen Strecke recht zufrieden, zumal mein Rad mich bisher nicht im Stich gelassen hat und keine Reparaturen nötig waren. 

 

 

Mittwoch, 18. September

 

Gut, dass ich heute einen Ruhetag in der Großstadt Ourense eingeplant habe. Als ich wach werde, prasselt der Regen auf die Plastikdächer des Innenhofes vor meinem Fenster. Der Schirm der freundlichen Frau aus Verin leistet mir heute gute Dienste. Bei einem Stadtrundgang komme ich in eine Kirche und feiere die heilige Messe mit. In der Nähe des Franziskanerklosters gehe ich auf einen alten Friedhof mit interessanten Gräbern und Mausoleen. Hier zeigt sich, wie die Lebenden anhand der Verstorbenen ihren Reichtum zur Schau stellen. Ich selbst glaube, dass sie Gott damit keinen Gefallen erweisen. Immer wieder regnet es. Bei der Tourist- Information lasse ich eine Übernachtung für mich im Zisterzienserkloster von Oseira vereinbaren. Bis Oseira sind es von hier aus nur 30 km, bis nach Santiago de Compostela noch 110 km. Ich will nicht zu schnell in Compostela sein, da ich erst am 26. September zurückfliegen werde und mich noch bei meiner Reise vor zwei Jahren dort 10 Tage aufgehalten habe. Außerdem liegen die Preise für Übernachtungen in Compostela in der Regel höher als hier. Bei der Tourist-Information bedient mich eine junge Frau, die akzentfrei deutsch spricht und bis zum 10. Lebensjahr in der Nähe von Stuttgart gelebt hat. Nicht weit von der Information befinden sich die heißen römischen Quellen (Wassertemperatur 67 Grad), die Hautleiden heilen sollen. Ein einheimischer älterer Herr kommt mit einer Henkeltasse daher und deutet an, dass das Wasser auch gut für den Bauch sei. Der Kreuzgang des Franziskanerklosters ist nach 17 Uhr geöffnet. Ich sehe ihn mir an und finde den palmenbestandenen Innenhof sehr beeindruckend. Die Klosteranlage selbst scheint zu verfallen und ist für eine Klostergemeinschaft in heutiger Zeit einfach zu groß. Ourense selbst ist eine Großstadt mit einer schönen Fußgängerzone, aber leider – wie viele Orte in Galicien – mit viel Regen gesegnet. Obwohl sie sehr niedrig liegt (150 – 180 m über NN), ist die Stadt doch stark hügelig.   

 

 

Donnerstag, 19. September

 

Endlich habe ich wieder einmal  trockenes Wetter! Gegen 8.30 Uhr gehe ich nach einem „Cafe con leche“ noch einmal zum Markt, um ein kleines Olivenbäumchen als Mitbringsel für meine Frau zu Hause einzukaufen. Aber es gibt dort nur mannshohe Pflanzen. Textilien und Lederwaren werden von Farbigen gehandelt, die meistens, wie ich mir sagen lasse, aus Nigeria oder Marokko stammen. Die Fahrt am Vormittag bei dichtem Autoverkehr aus der Großstadt Ourense heraus ist ziemlich hektisch. Zuerst fahre ich am Rio Mino entlang und hätte gerne die alte Römerbrücke fotografiert, aber etwas ist mit meinem Fotoapparat nicht in Ordnung, der Film wird nicht transportiert .Das Wetter ist kühl und der Himmel – wie so oft in Galicien – bedeckt. Eichen, Kastanien, Eukalyptusbäume und Ginster wachsen am Wege. An der auffallend zersiedelten Strecke der N 525 bauen die Menschen Mais, Kürbisse, Kartoffeln und Wein an. Bei San Cristobal verlasse ich die N 525 und biege in Richtung Zisterzienserkloster Oseira ab, wo ich über eine Nebenstraße am Nachmittag das Kloster erreiche. Ich werde von den Mönchen sehr freundlich aufgenommen, habe ein Doppelzimmer und einen weiteren Raum mit Schreibtisch. Ein Mönch nimmt sich die Zeit und führt mich durch die riesige Klosteranlage mit drei Innenhöfen. Anschließend zeigt mir ein anderer Herr sachkundig das Kloster. Er trägt keine Kutte und so nehme ich an, dass es sich um einen Fremdenführer für die Klosteranlage oder um einen Klosterbruder handelt. Als ich den ,,Bruder“, der auch recht gut Deutsch spricht, nach seiner Funktion hier befrage, erzählt er mir, dass er Generaldirektor für alle Aida-Kreuzfahrt-Schiffe in Europa sei, aus den USA stamme, aber einen spanischen Pass besitze. Wenn er nach schwierigen Verhandlungstagen ein paar Tage in dieses Kloster gehe, fühle er sich wieder wie neu geboren. Er sei Junggeselle, weil sein Job – verbunden mit den häufigen Reisen – ein geordnetes Familienleben nicht zuließ. Zwar sei das Geschäft nach den Ereignissen vom 11. September 2001 etwas zurückgegangen, erhole sich aber langsam wieder. Wir beide speisen am Abend zusammen in einem eigenen Raum für uns und beten mit den Mönchen zusammen die Komplet. Das Kloster selbst befindet sich in einer einsamen Gebirgsgegend. Es ist im Stil der Spätgotik erbaut, mit einer Mischung aus Renaissance-Ornamentik.

 

 

Freitag, 20. September

 

,,Bruder“ Luis will mich um 7 Uhr wecken, da ich keinen Wecker bei mir habe. Wir wollen gemeinsam zu den Laudes gehen und mit den Mönchen die Messe feiern. Der Chorgesang der Mönche ist phantastisch! Nach der feierlichen Messe in Konzelebration mit mehreren Mönchen frühstücken wir beide. Es gibt wahlweise Kaffee mit Milch oder Kakao, dazu Brot, etwas Margarine und Marmelade. Bei der anschließenden Verabschiedung erhalten die Mönche den freiwilligen Obolus von mir für die Beherbergung. Gegen 10.15 Uhr beginnt die letzte Etappe meiner Pilgerreise nach Santiago de Compostela. Die Fahrt geht von Oseira etwa 10 km zurück talwärts bis zur Hauptstraße und dann noch einmal auf 810 bzw. 660 m hoch. In der Nacht muss es wohl stark geregnet haben, man empfindet den Duft der Eukalyptusbäume besonders intensiv. Die Bewölkung reißt im Laufe des Vormittags auf, Erinnerungen an Holland und an die Nähe des Meeres kommen auf, wenn man die Seewolken landeinwärts ziehen sieht. In Lalin kaufe ich im Konsum ein und halte meine Mittagspause im gegenüberliegenden Stadtpark. Gegen 17 Uhr kommen erneut Gewitterschauer auf. Ich unterbreche meine Tour wiederholt bei einer Cola, Bier oder einem „Cafe con leche“ in einer Bar. Zwischen 18 und 19 Uhr, während es zu dämmern beginnt, habe ich im dichten Feierabendverkehr die Stadtgrenze von Santiago de Compostela erreicht. Ich bin enttäuscht, dass ich von der Kathedrale die Türme noch nicht sehen kann. Die hohen Gebäude der Wohnviertel versperren mir total die Sicht. Ich habe Angst, in diesem Feierabendverkehr auf der Straße zu fahren und benutze deshalb den Fußweg. Als die Zahl der Fußgänger in Richtung Stadtmitte zunimmt, steige ich ab. Eine ältere Frau spricht mich an und fragt mich, ob ich ein Peregrino sei und noch kein Zimmer habe. Sie erzählt mir, dass sie Zimmer für 10 Euro pro Tag vermiete. Als sie von mir erfährt, dass ich sechs Nächte in Santiago bleiben möchte, bietet sie mir die Übernachtung für 8 Euro an. Wir einigen uns auf diesen Preis. Ich folge ihr bis in die Calle Alfredo Banos, fünf Minuten von der Plaza Galizia entfernt und bringe mein Gepäck in die erste Etage ihres Hauses. Hier habe ich gleich in Anwesenheit einer Mitbewohnerin meine Schuldigkeit für sechs Nächte zu begleichen. Ich erhalte den Wohnungsschlüssel und darf mein Rad in der Wohnküche abstellen. Dort treffe ich einen Münchener an, der mir erzählt, dass er den „Camino francés“ von Leon bis Compostela gegangen sei. Er wolle mit seiner Freundin, die ebenfalls mitgepilgert ist, morgen noch bis Kap Finisterre weiterwandern und mit dem Bus in einer Woche zurückkommen. Von ihm erfahre ich weiter, dass er ähnlich wie ich von derselben Frau zwecks Zimmervermietung am Bahnhof angesprochen worden sei. Er vermutet, dass die Frau sich einen Nebenverdienst durch die Vermietung von Studentenzimmern verschafft.

 

 

Samstag, 21. September

 

Die Nacht ist unruhig. Von draußen dringt bis gegen 4 Uhr Lärm in mein Zimmer an der Straßenseite. Um 8 Uhr wache ich auf. Nach dem Frühstück gehe ich in Richtung Altstadt und mache im Hostal ,,Suso“ Halt, wo ich schon vor 2 Jahren mit meinem portugiesischen Weggefährten Carlos und später mit meinem Sohn Martin insgesamt 10 Tage gewohnt habe. Anschließend hole ich mir die Pilgerurkunde unter Vorlage meines Credentials. Als ich ins Pilgerbüro komme, reicht die Schlange der Wartenden fast bis zur Straße, obwohl im Büro vier Leute die Richtigkeit der Stempel prüfen. Vorab muss jeder Pilger sich in eine Liste eintragen und dabei Name, Vorname, Alter, Nationalität, Ausgangspunkt und Grund der Pilgerreise, ob zu Fuß oder mit dem Fahrrad angeben. Unter den Wartenden herrscht eine lockere Stimmung. Es wird viel fotografiert und erzählt. Man hört verschiedene Sprachen. Auffallend viele junge Leute sind darunter. Um 12 Uhr findet die traditionelle Pilgermesse statt. Die Kathedrale ist voll von Menschen. Mit viel Glück kann ich stehend an einem Pfeiler vorbei einen Blick zum Altar werfen. Die Messe wird in Konzelebration von mehreren europäischen Priestern gefeiert. Zu Beginn aber werden erst einzelne Pilgergruppen und Einzelpilger erwähnt und von wo sie aufgebrochen sind. Nach der Kommunion tragen Männer an einem Stab das große Weihrauchfass herbei, das an einem dicken Tau über den Köpfen der Gläubigen im Querschiff zum Schwingen gebracht wird, ein Ritual, das den Schweißgeruch der großen Menschenmassen früherer Zeiten absorbieren sollte.

 

 

Sonntag, 22. September, bis Donnerstag, 26. September

 

Die nächsten Tage vergehen wie im Flug. Ich schaue mir die Stadt, die Kirchen und mehrere Museen an. Jeden Tag besuche ich die Pilgermesse und bete für meine Familie, Freunde und Verwandte. An Werktagen interessiert mich, was der Markt von Compostela alles zu bieten hat. Am Sonntag fahre ich mit dem Zug nach La Coruna, um mir den Fischereihafen anzusehen. Leider ist das Wetter nicht gut an diesem Tag. Am Mittwoch fahre ich ohne Gepäck zu einer Erkundungsfahrt zum Flughafen von Compostela, um für den Tag der Abreise noch einige Dinge zu klären. Der Donnerstag ist Abreisetag. Ich radle noch einmal über den Platz vor der Kathedrale und lasse mich fotografieren. Einige Flaschen Wein, Käse, ein Fächer und ein Seidentuch gehören zu meinen Mitbringseln für zu Hause. Mein Flugzeug nach Barcelona hat zwei Stunden Verspätung. Da ich aber dort laut Flugplan nur 50 Minuten Aufenthalt bis zum Weiterflug nach Düsseldorf haben soll, ist mein Anschluss bei der Landung in Barcelona nicht mehr erreichbar. Ich gehe zum Iberia-Schalter und erhalte einen neuen Flugschein für den Weiterflug mit Spanair nach Palma de Mallorca. Man versäumt aber, mir für den Flug von Palma nach Düsseldorf eine Bordkarte mitzugeben. Es ist bereits 22 Uhr, als die letzte Maschine, ein LTU- Ferienflieger, nach Düsseldorf starten will. Als ich zusteigen will, nimmt man mich zur Seite und erklärt mir, dass ich nicht mitfliegen könne. Da ich nur im T-Shirt bekleidet bin, friere ich schon eine ganze Zeit lang. Eigentlich hätte ich Düsseldorf schon um 18.20 Uhr erreicht haben müssen. Ich protestiere also heftig. Man telefoniert mit Barcelona und lässt mich endlich zusteigen. Um 24 Uhr erreiche ich Düsseldorf. Mein Gepäck und das Fahrrad sind aber nicht angekommen. Wieder muss ich zur Information gehen und mein Gepäck bzw. mein Fahrrad beschreiben, während meine Tochter mich bereits am Ausgang erwartet. Einen Tag später erhalte ich die fehlenden Sachen durch einen Spediteur. Leider fehlt der Schirm der freundlichen Frau aus Verin, den ich in Compostela mit einem Teppichklebeband an meiner Reisetasche befestigt hatte.

 

 

Rückblick

 

In diesem Jahr bin ich bereits zum dritten Mal in Santiago de Compostela gewesen. Die erste Reise im Jahre 1998 mit meinem Sohn erfolgte mit einem Leihwagen vom Madrider Flughafen aus. Wir fuhren im Auto an die in Reiseführern genannten wichtigen Orte des „Camino francés“ mit seinen Kirchen, Klöstern und anderen Baudenkmälern heran. Wir kamen so mühelos in einsame Pyrenäen-Täler, um die Natur zu erleben. Kontakte zu anderen Pilgern konnten dabei nicht entstehen. Auch die Beschwernisse des Wanderns oder Radfahrens waren auf dem rund 800 km langen Weg von den Pyrenäen bis Santiago auf diese Weise nicht erfahrbar. Bescheidene Unterkünfte wie Refugien ließen wir damals aus. Es war für mich so etwas wie eine Informationsreise.

 

Anders verlief dagegen meine Pilgerreise im Jahr 2000 allein mit dem Fahrrad durch Frankreich, über die Pyrenäen und weiter über den „Camino francés“ nach Santiago de Compostela. Zu viel Gepäck, ein zu einfaches 7- Gang- Rad, aber eine hohe Motivation für die Erreichung des Zieles nach dem Ausscheiden aus dem Berufsleben machten diese Reise für mich zu einem unvergesslichen Erlebnis. Egal, ob ich in Deutschlands oder Frankreichs Jugendherbergen übernachtete, ob auf Bauernhöfen oder in Klöstern, überall wurden mir Freundlichkeit, Wohlwollen und manchmal sogar Herzlichkeit nach langen Fahrzeiten am Tag entgegengebracht. Der kürzeste Weg zwischen zwei Menschen ist ein Lächeln – sagt ein Sprichwort. So lernte ich jenseits der Pyrenäen den Portugiesen Carlos kennen, mit dem ich heute noch in brieflichem Kontakt stehe. Sicherlich ist der „Camino francés“ ein Pilgerweg von hohem europäischen Rang und ein wichtiges Kulturerbe. Täglich kommt man an mehreren Kirchen auf dem Weg vorbei. Die Infrastruktur mit Übernachtungsmöglichkeiten, Gastronomie und Geschäften ist gut ausgebaut.

 

Eine ganz andere Strecke ist dagegen der Jakobsweg des Südens, die „Vía de la Plata“ mit über 1200 km Länge von Sevilla nach Santiago de Compostela. In den Regionen Andalusien, Extremadura, Kastilien-Leon und Galicien liegen Dörfer und Städte mit ihren alten Kirchen, Hostals, Refugios oder Brunnen räumlich wesentlich weiter auseinander als auf dem „Camino frances“. Oft hatte ich den Eindruck, gar nicht auf einem Pilgerweg zu sein. Ich fühlte mich unterwegs allein, immer auf der Suche nach dem Ziel: dem Grab des heiligen Apostels Jakobus. Wer auf diesem Weg ist, kann in schwierigen Situationen nicht mit der Solidarität oder Loyalität der Mitpilger rechnen, denn es gibt kaum Pilger auf diesem Weg. Ich hatte auf dieser einsamen Pilgerreise viel Zeit zur Meditation. Während der Fahrt betete ich manchmal den Rosenkranz, fand dabei aber auch ein Auge für die Schönheiten der herrlichen Landschaften. Wie im Tagebuch erwähnt, begegnete ich nur wenigen Menschen, aber dafür mit einer Herzlichkeit, die bei uns zu Hause eher zu den Ausnahmen zählt.

 

In Compostela habe ich natürlich das Grab des Apostels Jakobus öfter besucht, habe die Jakobusbüste am Hochaltar umarmt und mir einige Male den Portico de la Gloria angeschaut, was ich in meinem Tagebuch nicht besonders erwähnt habe, weil es für jeden Santiagopilger eine Selbstverständlichkeit darstellt. Auf mein Fahrrad konnte ich mich verlassen. Es gab keine einzige Panne, nicht einmal Luft musste ich während der Fahrt nachpumpen. Während der ganzen Pilgerfahrt bin ich weder bestohlen worden, noch wurde ich krank oder stürzte mit dem Rad. Besonderen Dank für meine Pilgerfahrt nach Compostela muss ich meiner Frau Dorothea sagen, die mich zum zweiten Mal schweren Herzens allein ziehen ließ, mich aber mit Gottvertrauen in Gedanken begleitete.