Tagebuch vom „Camino francés“ (27.8.–3.10.1983); ergänzt durch „Impressionen und Expressionen“ von 1988
VORHER
Jacobus, treuer Freund der Menschen Mach du unsere Füße leicht Halte du deine Hand unter unser Gepäck Stärke du unsere müden Knochen Halte du deinen Pilgerhut vor die Sonne Schöpfe du uns mit deiner Muschel frisches Wasser Halte du mit deinem Pilgerstab alle Gefahren von uns fern Fülle du uns die Kalebasse stets mit Bier und Wein Kämpfe du mit uns gegen unseren inneren Schweinehund Geleite du uns heil zu deinem Grab Und führe uns glücklich an den Ort unseres eigenen Grabes zurück
30/8/83 ZUBIRI abends
Endlich komme ich dazu, auch mal zu versuchen, eine Seite vollzumachen: In einem Bett einer Feudal-Suite liegend, kann ich endlich mal anfangen: Bis jetzt ist alles toll gelaufen: Zuerst (am Samstag) die Autos: Morgens um 4.30 Uhr ging es los: nach 1285 km kamen wir in Puyoo an: nettes Hotel, die ersten Biere getrunken, ansonsten noch die Marschverpflegung aufgegessen, wenig geschlafen: laut und warm; aber was soll’s: Pilgerleben – Opferleben! Am nächsten Morgen ging es weiter (gezahlt hatten wir noch am Abend): mit dem Auto bis St. Palais; dort gerade noch nach der predigt in die Messe gestürmt: alles auf baskisch, aber gültig; der Pfarrer Tanbide war sehr freundlich: will sich um unsere Autos kümmern: Garage und so: mal abwarten, wenn wir wiederkommen vom hl. Jakobus! Dann die Rucksäcke geschnallt und auf geht’s: Am Sonntag dachten wir noch etwas über 700 km; inzwischen wissen wir, daß es über 800 km sind! Nur nicht den Mut verlieren; schon haben wir uns zum ersten Mal verlaufen: Die Französischkenntnisse sind auch nicht mehr die besten: statt tout droit sind wir direkt droite gelaufen: falsch! Na ja: dann der erste offizielle Hinweis auf den Stein von Gibraltar; nach wenigen Kilometern dort angekommen: sehr schön! Pause! Fotos! Dann über den Berg nach Harambels: schöne alte Pilgerkirche; immer weiter: nicht der Straße, sondern dem ausgezeichneten Weg nach: deshalb hatten wir am Ende des Tages statt der geplanten 30 km sicher 36/38 km: totmüde kamen wir in St. Jean-Pied-de-Port an: nettes Hotel, freundliche Leute: es gab sogar noch etwas zu essen (Forelle!); an diesem Tag: Schimpfen auf die deutschen Schuster: ein Trageriemen ging los und bei einer Bachüberquerung ging auch das schöne Fototäschchen schon ein wenig kaputt: Mist; nicht so gut geschlafen. Am Montag ging es dann weiter: nach kurzem Stadtbummel und einem netten Schuster, der meinen Trageriemen reparierte: hin über die Pyrenäen zur grünen Hölle von Roncesvalles: alles ganz schön, wenn das Wetter mitgespielt hätte: aber es regnete in Strömen: erst um 10 Uhr los: immer bergan, immer bergan: ganz schön steil und anstrengend – und immer naß; aber gegen Mittag hörte es auf: Wolkenfetzen; Umziehen mitten in den Pyrenäen: trockene Sachen: Pyrenäen-Strip; immer höher – immer anstrengender; immer neue Rufe: Nee, wat sind wir bekloppt! Aber immer weiter! Immer höher: Tolle Gegend: Nebel, Schafe, Pferde, Brombeeren, Ausblicke, Täler (ein wenig wie im Allgäu) – Am höchsten Punkt (nicht, wie erwartet, bei 1050 m, sondern bei 1485 m): Aufatmen: Es geht bergab – aber dann war der Weg weg: keine Markierungen mehr: quer durch den Wald – aber es klappte: endlich angekommen: Roncesvalles: Pilgerherberge und Kirche und Kloster für Tausende von Pilgern! Wir hatten es geschafft: Erst Eintragungen ins Gästebuch; dann Zuweisung der Zimmer: toll, rustikal, wie alte Pilger – das erste richtige Pilgererlebnis; dann Duschen: danach stand Javier Navarro in voller Montur („in schickem Zwirn“ wie Gerhard sagte) vor mir: ich nur in der Unterhose: ein wenig peinlich, aber nett; Abendessen: Ei und Schinken – Schinken und Ei: mal so, mal so: aber billig!
STEIN VON GIBRALTAR
Hier war es nicht, sagt der benachbarte Bauer Hier könnte es gewesen sein, flüstert die Landschaft Und entläßt hinter ihren sanften grünen Hügeln unzählige Pilger aus aller Herren Länder Ganz verschiedene Nationen, Charaktere und Motivationen tauchen auf Hier am alten runden baskischen Grabmal vereinen sie sich Die Muschel, der Pilgerstab und die Kalebasse am Sockel weisen den Franken-Weg zum Haus des Apostels in weiter Ferne Grenzen werden überschritten, Länder finden zueinander, Feinde werden Freunde Das Gottesreich beginnt Hier war es nicht, wiederholt ärgerlich der benachbarte Bauer
31/8/83 Immer noch ZUBIRI (diesmal morgens um 7 Uhr im Bett)
Nach der letzten Eintragung gingen wir erst mal gut essen – davon später! Also zurück nach Roncesvalles! Ein wichtiges Schlüsselerlebnis vergaß ich noch aus den Pyrenäen: Da ich an den Füßen kleine Pilzerrötungen bekam, reichte man (bzw. Frau) mir Vaginalcreme zur Behandlung: Hoffentlich gibt das keine lustbetonten Füße! Na ja, man muß alles mal mitgemacht haben. Jedenfalls haben wir in Roncesvalles gut geschlafen; Javier Navarro wollte uns (wie er am nächsten Tag erzählte) noch das „dernier sacrament“ reichen (einen guten alkoholischen Nachttrunk), aber wir waren zu spät nach Hause gekommen – wir hatten aber auch so genug. Morgens um 8.30 Uhr aus den Schlafsäcken; um 9 Uhr an der Laudes teilgenommen; um 9.30 Uhr eigene Messe (Thema „Dank“) am Hochaltar der Kirche unter dem Baldachin und unter den Augen der Muttergottes von Roncesvalles; Javier Navarro teilte uns mit, daß er uns bis Zubiri begleiten wolle; erst aber gingen wir frühstücken (ans spanische „Frühstück“ muß selbst ich, der Frühstücksmuffel, mich erst wieder dran gewöhnen); danach Besuch des Museums (schön gemacht, aber wenig Bedeutendes: eine Bibel mit Kupferstichen von Virgil Solis fiel mir sofort in die Augen!); danach Aufbruch – ohne Gepäck! Wohl ein einmaliges Erlebnis auf unserer Pilgerreise (und das verstößt nicht gegen die Spielregeln): Javier Navarro hatte uns angeboten, das Gepäck bis Epinal im Auto mitzunehmen, dort wollten wir uns treffen und zusammen weiterlaufen: also die ersten 7 km frei und unbelastet: Welch eine Wohltat! Dann mit Gepäck weiter: Die Landschaft von Navarra ist herrlich: Bergig, bewaldet (Eichen und Buchen); das Wetter angenehm (leicht sonnig; nur die Wege von den Unwettern des August alle sehr matschig); für Javier Navarro waren wir zu spät losgelaufen und liefen zu langsam: Sonst war er aber sehr nett; viel geredet (alles auf Französisch); aber: Wenn wir so langsam weiterliefen, kämen wir nie in Santiago an (wir werden ja sehen!). Unterwegs einige Reste des Weges: ein Wappen mit Jakobsmuscheln – der „Schritt des Roland“ – ein alter zugeschütteter Brunnen: Dort (eine Stunde vor Zubiri) verließ uns Javier, um trampenderweise nach Roncesvalles zurückzufahren, denn pünktlich zur Vesper um 18.30 Uhr wollte er wieder da sein: Vorher gab er uns noch einen Schluck vom „dernier sacrament“, einem alten Pilgerlikör (aus Pflaumen gemacht) und ein kleines Fläschchen mit. Wir also allein weiter – quer durch die Landschaft nach Zubiri; dort eine alte schöne Pilgerbrücke, dann zur Bar Valentino; dann erst mal ein paar Bierchen; die „Frauen“ blieben dort; wir wurden in einer Luxus-Suite (in gold-weiß) untergebracht; fein machen; Abendessen: gemischter Salat, Lamm, Whisky-Torte; dazu mehrere cervezas: alles prima; glücklich fielen wir in die Luxus-Suite-betten; heute soll’s weiter nach Pamplona gehen; draußen ist es kühl-regnerisch: mal sehen!
PYRENÄEN
Unter der drohenden Bußgebärde des Täufers beginnt der mühsame Aufstieg zum Rand des Himmels Die Sonne taucht die sanften Hügel in sattes Grün Unvermutet bedeckt Nebel die Wege nach oben Schwarze Pferde tauchen gespenstergleich aus dem milchigen Weiß auf Wallfahrer kennen nur ihren Weg – Grenzen müssen ihnen weichen Der chémin wird zum camino – die rot-weißen Markierungen werden zu gelben Pfeilen Sie weisen den Pilgern den Weg der Sternen- Straße in den fernen Westen Noch immer gehen sie bergauf Dort, wo die Irdischen an den Himmel packen können, weitet sich tief unten die Ebene Die Glocke am Paß ruft zum abendlichen Angelus
31/8/83 ZABALDICA gegen Mittag
Rast an der Landstraße: Das Wetter ist gut geworden: sonnig; zuerst dem ausgezeichneten Wanderweg nach: sehr umständlich: 3 Kilometer in anderthalb Stunden; dann Landstraße: fuß- und nervtötend, aber man kommt voran: nun sind wir schon auf der Hälfte nach Pamplona! Einige Nachträge (aus den Gesprächen mit Javier Navarro): Im Kloster von Roncesvalles leben z.Z. drei Kanoniker (in den schicken roten Kostümen) und zwei Mönche; einige Motivationen für die Wanderung nach Compostela: eine Gruppe von Protestanten aus der Schweiz: um Gott zu suchen und zu finden (wo schon viele andere ihn gesucht und gefunden haben); für Katechumenen: um sich in Santiago taufen zu lassen; eine Gruppe aus Amerika (mit einem jüdischen Professor, ansonsten „Atheisten“): um Land, Leute, Geschichte kennenzulernen; da dazu auch der Pilgerweg und zum Pilgerweg die Kirche und zur Kirche eine Messe gehören, verpflichtete der Professor seine Leute, jeden Tag an einer Messe teilzunehmen; andere Motivation: für die Einheit Europas. Javier Navarro will März ‚84 nach Düsseldorf kommen, um einen Vortrag über Roncesvalles zu halten: Mal sehen!
RONCESVALLES
Die Geschichte des grünen Tales beginnt mit Blut Der „Große“ war über die Berge und in Sicherheit Die Mächtigen sterben nur selten für sich selbst – das erwarten sie von ihren Getreuen Hier war es Roland – sein Name erfüllt das Tal Später kamen die Jacobspilger in großer Zahl Im Schutz der Madonna fanden sie ihre erste Ruhe auf spanischem Boden Nach langen Kämpfen gegen Regen und Kälte, Nebel und Wind, Sonne und Schweiß in den Pyrenäen Vor ihrem beschwerlichen Weg durch den Norden des Landes zum Grabdes Apostels Ob sie in ihren Träumen wohl manchmal noch die Klänge des Hornes Olifant hören? Ob sie wohl manchmal noch den Handschuh zur Geliebten in die Heimat schweben sehen
1/9/83 PAMPLONA 18 Uhr
Große Probleme haben sich inzwischen eingestellt: Zu dritt liegen wir im Bett mit einer Darm-Magen-Geschichte in der Pension in der Calle S. Nicolas 13 in Pamplona; obwohl wir ja eigentlich heute schon in Puente la Reina sein wollten; manchmal kommt es eben anders – hoffentlich geht alles gut; z.Z. sieht es jedenfalls sehr miese aus. Dabei endete der gestrige Tag so toll: gegen 17 Uhr Ankunft in Pamplona; Stempel beim Erzbischof geholt; Pension bezogen, gut zu Abend gegessen und getrunken – aber vor Pamplona war es wohl passiert: Da haben wir in einer Bar einige Tapas gegessen, vielleicht nicht mehr gut; jedenfalls heute morgen große Kotzerei und anderes; habe den ganzen Tag im Bett gelegen. Beschissene Situation – hoffentlich geht es noch weiter!
2/9/83 PAMPLONA 9 Uhr
Noch immer in derselben Herberge: eine moderne Pilgerherberge des 20. Jahrhunderts: unordentlich, dreckig, unaufgeräumt, mit kranken Pilgern im Bett und auf dem Boden, überall Krankheitssymptome: Coca-Cola, Anti-Kotz-Mittel, Kohletabletten…ein Bild des Jammers. Aber bei allem Jammer (und auch wenn Helge jetzt auch alles hat) – es gibt Hoffnungsschimmer: die Kondition und die Stimmung steigen wieder: vielleicht geht es morgen weiter; es wäre schön; heute aber bleiben wir erst noch in Pamplona – dieses Nest wird uns in bleibender Erinnerung bleiben.
3/9/83 PAMPLONA 8.30 Uhr
Noch immer dieselbe herberge: aber heute morgen mit mehr Hoffnungsschimmer: Wir brechen auf und versuchen, mal ein Stück weiterzugehen; unsere Devise: Wir gehen auf der Strecke so weit wir kommen und fahren dann den Rest bis Santiago; vielleicht können wir dann im nächsten Jahr den Rest des Weges laufen. Gestern machte die Kondition Fortschritte: Bummel durch die Stadt, durch die Kathedrale, durch den Kreuzgang (fenstergroßes gotisches Maßwerk: riesige Proportionen), durch das Diözesanmuseum: eine romanische Madonna neben der anderen aufgestellt: fast wie im Panoptikum: das Ganze ist im Refektorium für die Pilger untergebracht, daneben die Küche für die Pilger mit fünffachem Kaminabzug – dann mal wieder schlafen, wieder Bummel; Abendessen: Spargel als Vorspeise, Forelle als Hauptspeise; noch erwähnenswert: zwischendurch haben wir Skat gespielt: mit des Teufels Gebetbuch auf göttlicher Pilgerreise.
3/9/83 MURUZABAL 16.30 Uhr
Im Vorraum der Kirche; nachdem wir lange (ca. 15 km) auf der Landstraße Kilometer geschrubbt haben, sind wir nun auf einem Seitenweg und haben wieder das echte Pilgererlebnis: kleine Straßen, wenig Autos, Brombeeren, tolle Landschaft, ein wenig auf und ab, Bäche, Brücken…Ein kleines Nest hier, in dessen Kirche nach Angabe des Führers eine Darstellung des hl. Jakobus als Pilger sein soll; mit viel Phantasie kann man ihn auf einem Altarbild in der (abgeschlossenen) Nordkapelle der Kirche entdecken; ein kurzes Gebet, daß es heute doch einigermaßen weitergeht; hier in der Kirche (vor Puente la Reina) kam mir der Gedanke des „Zusammenführens der Gegensätze“: wie in Puente la Reina alle Wege aus Ost und West und Süd und Nord und mit Menschen unterschiedlicher Charaktere und Überzeugungen zusammenkommen, so kommt es öfters im Leben: so wie wir sechs jetzt zusammenlaufen: unterschiedliche Alter, unterschiedliche Interessen, unterschiedliche Bildung, unterschiedliche Motivationen…; ebenso im Glaubensleben, in der Kirche: viele unterschiedliche Menschen werden zusammengeführt (oder kommen zusammen), um gemeinsam etwas zu machen; oder in einer Ehe oder Partnerschaft: Zusammenführen von Gegensätzen; Puente la Reina als ein Lebens-Gleichnis…
3/9/83 PUENTE LA REINA 18.30 Uhr
Angekommen! Am Ort der Vereinigung der Wege: „Von hier aus bilden alle Wege nach Santiago einen einzigen“ steht auf dem modernen Denkmal am Ortseingang. Nach leichten Schwierigkeiten, die richtigen Leute zu finden, sind wir jetzt im Kloster untergebracht: schmuddelig und dreckig, aber einzeln; jetzt frisch machen, dann bummeln, dann essen – um 22 Uhr wird die Klosterpforte geschlossen; mit einigen Schwierigkeiten ging es aber heute: Gott und Santiago seien Dank!
PUENTE LA REINA
Mit dem Charme einer Königin spannt sie sich von Ufer zu Ufer Der blaue Arga verdoppelt ihren Bogen zum gedrehten heiligen Zeichen Ihre liegende Mandorla wies den Pilgern die Richtung Ihren Rücken beugte sie unter Tausenden von Wallfahrern Sie ließ sich treten von ungezählten geschundenen Füßen Wahre Größe liegt im Dienen Vielleicht ist es das, was der Apostel mit leicht geöffnetem Mund den Vorbeiziehenden zuflüstert?
4/9/83 LORCA 15.15 Uhr
Sitzen im Schatten einer geschlossenen Bar – etwas frustrierend, aber kühlend; heute in glühender Mittagshitze losgelaufen: das soll es nicht wieder geben! Gestern abend lecker essen gewesen und trinken; gerade noch vor Verschließen der Klosterpforte eingetrudelt, gut geschlafen, wenn auch aus der Ferne bis 4 Uhr morgens Disko-Musik; mit der gold-glühenden Morgensonne, die den Kloster-Innenhof vergoldete, um 7 Uhr wachgeworden; um 8.15 Uhr Messe in der Santiago-Kirche; Stempel bekommen; auf das Öffnen einer Bar gewartet: vergebens; ohne Frühstück los; bis Maneru, aber: „in Maneru, in Maneru, da waren alle Kneipen zu!“ – wieder weiter bis zur Bar von Cirauqui; auf den höchsten Punkt der Stadt gestiegen: zur Romanus-Kirche: herrliches Portal mit Lappen, die drei-fächrig ausliefen, richtig arabisch verspielt; auf den Lappenfächern: Ranken, Kordeln, Schnüre – in sich verschlungen; ein netter Mann machte uns Licht an in der Kirche; etwas bäuerisch gestalteter, schöner Schnitzaltar im Nordschiff mit Kreuzigung (oben) – Verkündigung (links; der Engel mit Schlitz im Kleid) – Heimsuchung (rechts); im ganzen Dorf starrten und staunten die Leute uns nur so an: wie Weltwunder, mit einem leichten Lächeln auf den Lippen: Wie kann man nur so blöd sein? Weiter auf der Straße bis Lorca: s.o.; hier knacken jetzt die meisten auf den Liegematten, die Ameisen mögen mich auch und Durst ist schlimmer als Heimweh – Hl. Santiago, warum mußtest Du ausgerechnet Patron von Spanien werden? – Schlafen geht nicht: Helge klopft die Schuhe weich: mit zwei Steinen und Nivea (Prinzip Kotelett).
5/9/83 IRACHE (Kloster) 10 Uhr
Vor dem Kloster gut gefrühstückt: Brot, Schinken, Melone, Joghurt, Coca. Gestern gut in Estella angekommen (gegen 18 Uhr); Hotel gefunden: geduscht, gewaschen, gebummelt: nach S. Miguel hochgestiegen: sehr schönes Portal, vor allem die Darstellung der Frauen am leeren Grab: Menschen auf dem Weg, auf der Suche nach Jesus – wie die Jakobspilger – wie wir; Wegedarstellungen finden sich oft am Weg: Hl. Drei Könige – Emmaus – Frauen am Grab: ständig neu aufbrechen, die Erfahrung wird bei der Wanderung immer wieder deutlich; auch wenn man irgendwo bleiben möchte, auch wenn man noch müde ist, auch wenn die Füße noch weh tun – es muß weitergehen, möglichst früh, um der glühenden Mittagshitze zu entgehen. Danach essen gegangen: Gemüse, Schweinskotelett, Flan, Bier, Wein, Cognac; vorher noch auf dem Marktplatz drei Musikanten mit einheimischer Musik gehört; heute morgen früh aufgestanden (6.45 Uhr); um 7.30 Uhr Abmarsch: Kaffee in einer Bar, dann Richtung Los Arcos; jetzt in Irache: Belästigt durch den Staub der örtlichen Müllabfuhr, durch Hunde, durch Kinder… Nachtrag von den Gesprächen mit Javier Navarro (einem Mönch aus Roncesvalles, der eine Tagesetappe mit uns pilgerte): Voriges Jahr (1982: „Heiliges Jahr“ in Compostela) sind über 500 Pilger zu Fuß von Roncesvalles losgezogen, wir waren dieses Jahr die Nummern 225-230.
5/9/83 5 km vor LOS ARCOS 15.15 Uhr
Im Schatten eines Nadelwaldes, in der Nähe der Straße, auf einem abgemähten Feld, inmitten von Kaninchenkötteln, auf der Liegematte machen wir seit zwei Stunden Siesta: immer und immer und immer wieder belästigt von Fliegen; angeregt durch diese Biester fallen mir bisherige „Gefahren“ eines Pilgerlebens ein: Regen: bisher nur in den Pyrenäen, aber wie wir hörten, in den ganzen Wochen vor uns: alles sieht sehr überschwemmt aus: Felder, Weinberge, Bachläufe… – Autos: immer wieder rasen sie entgegen und vorbei; da aber die Landstraße immer die kürzeste Verbindung ist, können wir dabei viele Kilometer schrubben; schrecklich dieser Lärm, Gestank, Staub, Abgase… – Sonne: seit gestern scheint sie über Mittag brüllend heiß, so daß eine Siesta unerläßlich ist; da wir immer nur nach Westen wandern, werden wir nur links braun, rechts nicht so (deshalb mußten die Pilger im Mittelalter auch zurückwandern, damit sie auch auf der anderen Seite braun wurden)… – Durst: immer wieder und immer wieder: habe inzwischen Coca-Cola zu meinem Leib- und Magen-Getränk erkoren; außerdem Suche nach Brunnen, Wasserstellen, Brombeeren; es wird aber sicherlich noch schlimmer kommen; eben die Vorstellung gehabt, der Erzengel Michael könne mit einem Kasten „AGUILA“ (trinkbares Bier hier) vom Himmel herabkommen (natürlich gekühlt); Gerhard: „Es kann aber auch ein anderer Erzengel sein!“; ich: „Es kann auch ein anderes Bier sein, z.B. Köpi“… – Schlangen: gestern mittag im Schatten einer Brücke eine gesehen: zusammengerollt, schlafend: nur schlafen lassen und weiter… – Hunde: immer und überall in jedem Dorf, an jedem Haus, in jedem Kaff, an jeder Ecke bellt und kläfft und knurrt und jault und wimmert und heult es in allen Tönen; Helge wies schon auf die ursprüngliche Bedeutung des Satzes „Den letzten beißen die Hunde“ hin… – Fliegen, Mücken, sonstiges Untier: es juckt und sticht und beißt und zwackt und kribbelt überall; verständlich, warum die Pilger in Santiago neue Kleider bekamen; wir müssen leider noch selbst waschen, was aber auch ganz gut klappt… – Magen- und Darm-Beschwerden: bisher nur (Gott sei Dank!) einmal gehabt (in Pamplona); reicht aber auch, hoffentlich nie wieder: laufen sollen nur noch die Beine, keine anderen Körperteile mehr… – Polizei: guardia civil, bisher nur für Helge gefährlich, der seinen Fotoapparat hinter Pamplona in Richtung auf die Stadt hielt, was die Polizei aber aus einem anderen Winkel sah und sich fotografiert fühlte; Helge mußte antanzen wie ein Hund „Hierher!“, dann Überprüfen der Papiere, wichtige Mienen, etwas Gerede, dann durfte er wieder gehen…andere Gefahren später! Nachtrag von heute morgen: Besichtigung in Estella von San Pedro: ähnliches Portal wie in Cirauqui: ähnlich gelappt mit den drei-fächrigen Abschlüssen; nur geometrischer, gestrickter, ornamentaler als in Cirauqui – jedenfalls sehr schön und orientalisch anmutend…Jetzt gleich Aufbruch, nachdem wir auch eine Stunde lang einen schönen Skat gespielt haben…
6/9/83 LOS ARCOS 8.30 Uhr
Sitzen in einer Bar von Los Arcos: Der Abend und die Nacht waren schlimm: Zunächst war es sehr schön: im Schwimmbad von Los Arcos gewesen, sehr erfrischend, aber die spanischen Frauen über 25 kann man vergessen…; die Hotels (2) in Los Arcos zu teuer, deshalb zum Pfarrer: saß auf dem Mäuerchen vor der Kirche: vergammelt und versifft; nach langem Reden bestellte er uns für 20 Uhr vor das Portal der Kirche (übrigens sehr schön); dann wurden wir in den Pfarrsaal einquartiert, einfach, aber „schön“, auf der Schlafmatte; essen gegangen; mit Gerhard noch „Pinkeln“ gegangen, dabei den ganzen Cognac im Dorf aufgesoffen: jetzt dicken Kopp und dabei für heute 28 Kilometer: Wie heißt der Heilige gegen Kopfschmerzen? Er möge sich meiner erbarmen! (Aber schön war’s doch!)
6/9/83 In einem Wäldchen 15 km vor LOGRONO 14.45 Uhr
Bisher noch nicht viel gelaufen, dafür aber schöne Sachen gesehen in Torres del Rio: eine tolle Eingangstür mit Muschelmotiven beschlagen (eigentlich noch schöner und uriger als in St. Jean-Pied-de-Port); und: das heilige Grab dort; einfache, schlichte, gekuppelte Kirche mit flachen Gurtbögen und ganz fein ziselierten Durchbrüchen: wuchtig und verspielt zugleich: das waren noch Architekten! Eine alte Frau schloß uns die Kirche auf, nachdem zwei nette Teenies sie geholt hatten; ein strenges polychromes Kreuz auf dem Altar (12. Jahrhundert) – Dann weiter durch glühende Sonne, aber heute mit einem angenehmen Wind vermischt: die Landschaft wird immer karger; bald verlassen wir Navarra und kommen nach Rioja – aber vorher müssen wir noch laufen!
6/9/83 LOGRONO 20.15 Uhr
Immer weiter die Landstraße; interessant und ekelhaft, was da alles so rumliegt: tote Hunde, Vögel, Igel, Schlangen, Schmetterlinge, Ratten, Hasen, Mäuse, Kröten…Dann wieder ein schöner Ort am Bergeshang: Viana mit einer herrlichen Marienkirche und einem idyllischen Vorplatz mit Brunnen: Treffpunkt für alt und jung; in der Kirche gold-glänzende-bunte Altarretabel: überall: wie so oft in spanischen Kirchen spürt man auch hier den „horror vacui“, alles muß ausgefüllt sein, überall eine Figur, eine Darstellung, ein Ornament; am Hauptaltar: Marienszenen; an der Ostseite des linken Seitenschiffs zum ersten Mal ein Maurentöter (über einer Kreuzigung): der heilige Jakobus auf seinem legendären weißen Roß, das Schwert schwingend, ein Maure tot zu seinen Füßen – Wir machten eine längere Rast: Wasser aus dem Brunnen (prima!), ein Kaffee, eine Cola – dann weiter, Richtung Logrono: eine richtige Pferdestrecke: endlos lang zog sich die Straße dahin, durch die Vorstädte, durch Chemieanlagen mit allen möglichen Geruchsnuancen, über „Flüßchen“ in allen möglichen Farben: Dreck und Gestank bis runter zum Ebro: dort spiegelte sich die Silhouette des alten Logrono malerisch in der Abendsonne; bis zur Marienkirche; dort Unterkunft gesucht – nun kann der Abend wieder beginnen!
7/9/83 NAVARRETE 13.10 Uhr
Im Schatten des Brunnenplatzes von Navarrete, wie überall Zentrum des Lebens: Platanen, Kinder, Fahrräder, Kinderwagen – und alle staunen; einen guten Schluck vom kalten Wasser genommen: wie immer neues Leben: biblische Begriffe bekommen wieder neue Inhalte: Wasser, Schatten, Ruhe. – Gestern abend lecker essen gegangen, mal was anderes: Gemüsesuppe, Lammkoteletts, ganz alter Schafskäse, danach woanders eine flambierte Crêpe gegessen: richtig lecker und preiswert; dann gut geknackt; um 7.30 Uhr aufgestanden; Geld gewechselt; Besichtigungsprogramm: S. Bartolome mit herrlichem Portal, stark verwittert; zu erkennen ist in der Mitte noch eine Auferstehungsszene mit zwei Frauen und Engeln, die die Leidenswerkzeuge zeigen; danach zur Jakobskirche; über dem Portal ein riesiger Matamoros über riesigen Mohrenköpfen; die Potenz des Heiligen ist symbolisiert im Glied des Pferdes: machtvoll, kämpferisch, aggressiv; im Inneren wie immer: riesiges Altarretabel: auch dort vielleicht noch Jakobsdarstellungen; vor der Kirche gefrühstückt und auf das Siegel des Pfarrers gewartet; dabei auch den alten Jakobs-Pilger-Brunnen vor der Kirche bewundert; wenig erinnert an längst vergangene Tage, lediglich die Atmosphäre und das Bewußtsein, daß hier Tausende sich erfrischt und erquickt haben; nach dem Siegel ging es durch das alte Jakobstor weiter: Landstraße ca. 10 Kilometer bis Navarrete, eine Stadt, die auf einem Berge liegt und schon von weitem zu erkennen ist; bis zum Brunnenplatz hochgestiegen: nun kann die Siesta beginnen! Kurz noch in der Kirche gewesen: wie immer! Nur noch mehr Panoptikum: Heilige hinter Glas in Schaukästen.
7/9/83 NAJERA 20.15 Uhr
Liegen im Saal des Klosters, hören Klaviermusik (mit Marianne und Gerhard: spielt unsere Wanderlieder); die Liegematten und Schlafsäcke dienen uns wieder als Dormitorium; toll hier (bis auf die Blase unterm rechten Fuß, die Gerhard mir aufsticht); der Weg von Navarrete ging noch ein Stück über Landstraße, dann alter Pilgerweg: sehr schön, aber heiß, Luft stand; die Vorstadt von Najera sehr frustrierend: viele Kiesgruben und Fabriken; in der ersten Bar Erfrischungen: Ein Bier und eine Cola: das zischt!! Dann weiter durch die Stadt zum Kloster Santa Maria la Real; dort direkt einen sehr netten Bruder getroffen: Wir durften unterkommen und dann ging sofort die Führung los (alles im Wanderdreß und mit dicken Schuhen): Treppenhaus mit Kuppel (Scheinarchitektur); dann der Höhepunkt des Klosters: Kreuzgang: Mischung von drei verschiedenen Stilen: Gotik und platereske Füllungen und Säulen der Renaissance: sehr harmonisch, sehr elegant, sehr höfisch-königlich: das Ganze ist auch eine Stiftung der Könige von Najera: Hier kann man nicht gehen, sondern nur wandeln oder schreiten; dann hinein in die Kirche: zwischen der einfachen Gotik schimmerndes Gold der Altäre und die Jungfrau von Najera, assistiert vom hl. Benedikt und der hl. Scholastika; Königs-Kinder-Gräber in der Kirche mit Darstellungen des jüngsten Gerichts und des Gleichnisses von den klugen und törichten Jungfrauen: sehr beeindruckend; dazu die klaren, aber oft ironischen Bemerkungen des schauspielbegabten Klosterbruders; noch auf den Coro hochgestiegen: Chorgestühl, kurz nach der Entdeckung Amerikas entstanden: als Miserikordien gab es Indianer, Neger, Mauren, Syphiliskranke…Nun auf zum Abendessen! Es eilt!
8/9/83 AZOFRA 12.10 Uhr
Sitzen in einer Bar und machen die erste Pause; gestern abend gut gegessen: Zweimal Suppe: Einmal Schlapp-Schlapp; Einmal dicke, weiße Bohnensuppe: sehr lecker (mit Nachwirkungen), dann drei Fische (gebraten) und Milch-Dickspeise; das Schlaflager war etwas hart auf dem Steinboden; heute morgen um 8.30 Uhr Messe unter der Jungfrau von Najera am Festtag der Geburt Mariens; dann Frühstück, gegen 10.30 Uhr los: wie immer zu spät, aber (trotz guter Vorsätze) wir schaffen es nicht früher! Von den „Freuden“ eines Pilgerlebens: Ankommen: Jeden Abend immer wieder neu ein Erlebnis: die letzten Kilometer, die letzten Schritte und dann da sein! Die Schuhe aus, die Socken aus: endlich Luft (wenn auch etwas schlechtere)… – Wasser: zum Trinken, zum Abkühlen, zum Duschen (in allen Varianten: kalt und warm, einstrahlig oder mehrstrahlig, sauber oder dreckig…); vor allem aber immer wieder die Dorf-Brunnen: Quellorte des Lebens, der Kommunikation, des Klatsches, der Erfrischung… – Bars: wenn es welche gibt am Weg, in einem Dorf; wenn sie geöffnet sind: trotz Qualm und Mief und Fernsehen und Musik und Spielautomat: immer wieder nett und erholsam: Kaffee oder Cola oder Mineralwasser oder (aber erst in der letzten Bar vor dem Ziel!) Bier; dann etwas schreiben oder dösen oder entspannen oder knabbern und dann weiter (wobei dieses „weiter“ oft schwer fällt)… – Briefkästen: jeden Abend oder Morgen neue suchen, um die Schreibmanie jeden Tag einhalten zu können…Vielleicht später noch andere „Freuden“ – Gestern abend hat Gerhard mir eine Blase unter dem rechten Fuß aufgestochen; seitdem kann ich wieder prima laufen: eine kleine, ein wenig schmerzhafte Freude!
8/9/83 5 km vor SANTO DOMINGO DE LA CALZADA 14.15 Uhr
Die Hühner kommen immer näher! Seit Azofra fast nur Landstraße: warm, dreckig, laut – aber wir kommen voran. Noch zwei „Freuden“ eines Pilgerlebens: Die erste fiel mir bei leichten Beschwerden durch die gestrige Bohnensuppe (nochmals: sehr lecker) ein (es durfte keiner hinter mir hergehen); also: gut Essen und Trinken: abends nach dem Frischmachen und Umziehen (jeden Abend dieselbe Abendgarderobe: ganz in Blau): Suchen eines guten, aber preiswerten Restaurants; bisher haben wir fast immer Glück gehabt; dann erst ordentlich was trinken und dann die einzelnen Gänge: das spanische Essen ist zwar nicht sehr einfallsreich (die Speisekarte haben wir fast durch: Tortilla, Paella, Suppe, gemischter Salat, Stück vom Schwein oder Hähnchen…), aber für unser Pilgerleben reicht es: jedenfalls sind wir bisher immer gut satt geworden… – und eine zweite Freude (so wie jetzt gerade): ein schattiges Plätzchen zur Mittagszeit: ein kleines Wäldchen, ein paar einzelne Bäume, ein Haus…: jedenfalls: so ein Schatten-Dasein rekreiert und regeneriert und refrechiert und revanchiert für vieles! Vamos!
8/9/83 SANTO DOMINGO DE LA CALZADA 18 Uhr
Im Augenblick ist es wie im Schlaraffenland: Wir haben ein ganzes Haus für uns, das Haus der Stadt für die Pilger: tolle Fassade, toller Eingang, tolle Treppe, tolles Bad (wenn auch bisher nur kaltes Wasser), tolle Küche (wenn auch bisher noch kein Gas), tolle Schlafzimmer mit altem Gebälk: So macht das Pilgerleben wieder Spaß! Die letzten Kilometer bis hier waren anstrengend, heiß und ermüdend: eine endlos lange, gerade Straße; und schon von weitem der riesige Turm der Kirche von Sto. Domingo: wie ein Zeigefinger ragt er in den Himmel; und je näher wir kamen, desto verspielter wurde er, eine kleinere Ausgabe von den Türmen von Compostela; sehr schön auch, hier mal die Idee des freistehenden Campanile zu finden; da dir Kirche noch zu war, zunächst in einer Bar einiges getrunken, wiederum untermalt vom schrecklichen Fernsehen – Gerade kommt der Ruf: Alles klar! Der Herd funktioniert und das Wasser in der Dusche ist auch warm – In der Bar viele Karten geschrieben mit dem Grundtenor: Hier ist die einzige Kirche in der Welt, die nicht nur ein Hühnerstall ist, sondern wo auch ein Hühnerstall drin ist; dann in die Kirche zu den Hühnern; das Paar gackert immer noch vor sich hin: eine Feder als Souvenir und Pilger-Dokument mitgenommen: Herrlich, diese Konkretisierung des Glaubens und diese Show-Effekte am Weg, die den mittelalterlichen Pilger und uns hochhielten und hochhalten; Rundgang durch die Kirche: eine herrliche Veronika, einen Matamoros und ein Relief des Dominikus (als Brückenbauer) fotografiert; dann kam die Nachricht (durch den Schuster übermittelt, dem Gerhard seine Schuhe zum Neu-Sohlen gebracht hatte): Es gibt ein Haus für Pilger der Stadt: beim Pfarrer oder bei der Polizei melden; Gerhard und ich gingen zur Polizei und nachdem wir unseren Pilgerausweis vorgezeigt (war von den vielen Siegeln beeindruckt) und ich meinen Ausweis dagelassen hatte, führte er uns zu dem Haus: wie schon erwähnt: tolle Fassade…(s.o.); nun habe ich schon geduscht (doch kalt! Aber sehr erfrischend!); Marianne und Gerhard sind einkaufen; zwei neue Pilger (wohl aus England) sind auch eingetrudelt; ich habe eine neue Abendgarderobe an: da es heute sportlich sein soll: Sporthose…Mal sehen, was es zu Essen gibt…
SANTO DOMINGO DE LA CALZADA
Des Wirtes Töchterlein las gerade im Alten Testament die Josefsgeschichte Als der schöne Pilgerjüngling Jacob die Gaststube betrat Wie Potifars Weib stürzte sie sich auf ihn Er aber hatte nur seinen Namenspatron im Sinn Der Trick mit dem Silberbecher klappte erneut Und so kam für Jacob schnell sein scheinbares Ende am Galgen Die fürsorgende Liebe der Eltern und die ungläubige Ironie des Richters verliehen dem Federvieh am Bratspieß erneut Flügel Der Hahn kräht diese uralten Geschichten pausenlos in die Kirche Die Pilger-Touristen schütteln verständnislos ihre Köpfe Und versuchen, mit Stöcken und Schirmen eine weiße Hühnerfeder zu ergattern Alle ziehen reichbeschenkt in ihre Heimat zurück Der Apostel hält unter jeden schützend seine Hand
9/9/83 BELORADO 14.15 Uhr
Sitzen auf dem Platanenplatz und halten Siesta: Käse, Weintrauben, Brot, Wein – schon wieder am Essen; dabei gab es gestern abend noch Hervorragendes: Eintopf von Fleisch, Schinken, Tomaten, Zuccini, Möhren und vor allem Kartoffeln: Sto. Domingo ist wohl das Kartoffel-Zentrum Spaniens: Überall Kartoffelernte, Kartoffelautos, Kartoffelkäfer…; jedenfalls das Essen war gut und preiswert: mit Wein und Bier und Joghurt…wie im Schlaraffenland; nach dem Essen: Spülen und dann Kniffel-Spielen; nicht mehr lange, da doch müde und für heute morgen um 6.30 Uhr Aufstehen angeordnet war, wieder gut essen zum Frühstück: Schinken und Ei und Joghurt und Cola und Kaffee: eine gute Grundlage für die heutigen 31 Kilometer; dann den Ausweis bei der Polizei abgeholt und um ca. 8 Uhr ging’s los: Landstraße: Noch viele Kilometer war der Turm der Kirche in der aufgehenden Morgensonne sichtbar: ein Mahnmal in der Ebene; immer leicht bergauf; durch fruchtbares Land und Kartoffelfelder; nach ca. zwei Stunden Rast in Redecilla del Camino: das letzte Nest, aber in der Kirche ein Kleinod: direkt links in der Kapelle ein alter (ziemlich großer) romanischer Taufstein mit einer Architekturdarstellung: das irdische oder himmlische Jerusalem: jedenfalls acht Tore und acht Türme, darüber ornamentale Bänder; das ganze sehr schön und gekonnt; in dieser Taufkapelle ein (modernes) Fenster mit einem Tauf-Symbol: aus einer Muschel floß Wasser; in Redecilla gegenüber der Kirche: ein kleines Häuschen, verlassen, mit einem riesigen Wappen, dessen Schwere fast die Wand herausbrach: Wappen schienen und scheinen hier wohl Prestige-Objekte an der Fassade zu sein; dann weiter: wieder eine neue Provinzgrenze überschritten: von Rioja nach Burgos; aber auch hier sind die Meilensteine genauso einfallslos; schön waren sie in Navarra: sehr liebevoll bemalt, mit ganz detaillierten Kilometer-Angaben; jetzt finden sich nur noch einfache Zahlen auf den Steinen – Nun ja, es ging weiter (bis auf wenige Ausnahmen über Landstraßen) bis zu diesem Nest, wo wir nun sitzen: 2/3 der heutigen Etappe ist geschafft!
10/9/83 ATAPUERCA 12.36 Uhr (nach Gerhard)
(ca. 20 km vor Burgos) Bisher ohne anständiges Frühstück (nur mit zwei Colas und zwei Cognacs) mit mehr oder weniger strömendem Regen hier gelandet: in einer netten Bar, wo es auch etwas zu essen geben wird; herrliche Landschaft hier: Hochebene mit Heidekraut und gelben und violetten Blümchen; schweren Regenwolken, ab und zu durchbrochen vom blauem Himmel: bis auf die Witterungs- und Magenverhältnisse sehr schön: aber beides scheint sich zu bessern. Nun aber zu gestern: Von Belorado ging es immer beständig und stetig bergan (heute bis auf 1150 m), meist über den alten Pilgerweg, durch Kornfelder und Kartoffelfelder: sehr malerische Ausblicke; dann endlich (gegen 20 Uhr) in Villafranca Montes de Oca angekommen (950 m hoch): zum Pfarrer, aber der war nicht da (kam auch den ganzen Abend nicht wieder!); erst mal einkaufen gegangen, dann wurde es immer dunkler; essen in der Vorhalle der runtergekommenen Kirche; gegen 22 Uhr dort auch das Nachlager ausgebreitet: zum ersten Mal draußen; Schlafmatten, Schlafsäcke ausgebreitet, einige Tischplatten zum Windschutz und dann mit allen Klamotten knacken: Schlimm war die Glocke, die über uns alle halbe Stunde dröhnte, die dazu überflüssigerweise die vollen Stunden auch immer doppelt schlug; über uns ein herrlich klarer Sternenhimmel, etliche Fledermäuse, Eulen und Steine, die ab und zu aus dem Gesimse fielen; im Hintergrund: Stimmen, Hundegebell und Lastwagen: trotzdem ab und zu geschlafen: unterbrochen von Leuten, die vorbeikamen, vom Lärm der umstürzenden Tischplatten, vom heftigen Wind; bis kurz vor 7 Uhr geknackt; weiterlaufen: immer bergan: bald fing es an zu regnen, ziemlich stark, alles ohne Frühstück und ca. 35 Kilometer vor Augen; in San Juan de Ortega in eine tolle, gammelige Bar: Zwei Colas, zwei Cognacs zur Auffrischung und zum Warmwerden; dann in die Kirche: beeindruckend die drei Apsisfenster mit den jeweils zehn hintereinander-gestaffelten Bögen; schönes Grabmal mit Pilgerdarstellungen; Franzosen getroffen, die uns zu unserem Unternehmen gratulierten; dann weiter durch die Hochebene: Klasse! Jetzt hier gelandet: Kaffee und Schinken und Ei! Guten Appetit! Fertig! Noch zwei „Gefahren“ des Pilgerlebens sind mir gestern begegnet: von Autos abstehende Zierleisten, die gefährlich werden können und Mähdrescher, die auf dem Seitenstreifen der Landstraße oder auf Feldwegen in voller Breite und Größe entgegenkommen und wo es kein Ausweichen mehr gibt – außer ins Gebüsch springen. Übrigens muß ich bisher feststellen, daß mein Ausrüstung fabelhaft ist: Schuhe, Strümpfe, Socken, Kniebundhose, Unterhosen, Hemden, Fräckchen, Halstuch, Hut, Rucksack, Schlafmatte, Schlafsack, Regencape…alles bestens – vielleicht sollte ich der Schuh-Firma Mephisto nach der Rückkehr ein Dankesschreiben schicken…!? Nach den „Gefahren“ und „Freuden“ des Pilgerlebens nun einige „Versuchungen“ (neben den üblichen Wein, Weib und Gesang): Morgenversuchung: nicht pünktlich aufstehen, im warmen Bett oder Schlafsack liegen bleiben wollen; und die Zeit rinnt dahin; oft erst um 10.30 Uhr losgekommen; dabei festgestellt, daß es viel besser ist, wenn wir möglichst früh loslaufen (gegen 7 Uhr oder 7.30 Uhr)… – Wegeversuchung: nicht den alten Weg laufen, sondern die Landstraße: weil es einfacher geht, schneller, leichter zu finden und weil es Kilometer runterzieht; dabei sind die alten Wege oder die Weg abseits der Straße meist viel schöner… – Mittagsversuchung: zum leichten Mittagessen ein wenig Alkohol trinken, aber dann kommen die schweren Beine und der dicke Kopp, besonders in der Hitze… – Pausenversuchung: wenn irgendwo gerastet wird, nicht die vorgesehene Zeit einzuhalten, sondern länger zu bleiben und zu meinen: es wird schon: aber die Kilometer bleiben die gleichen und die Zeit rinnt davon; trotzdem ist es immer wieder ein Angang, den schweren Rucksack zu schultern; also noch ein wenig sitzenbleiben und dösen oder trinken oder klönen oder essen oder schlafen oder spielen… – Abendversuchung: zum leckeren Abendessen einen zu heben; es bleibt ja nicht bei „einem“, es werden mehrere (Bier oder Wein) und manchmal auch noch schärfere Sachen (vgl. Los Arcos); am nächsten Tag dann die Beschwerden: müde, lahm, dicker Kopp…Vielleicht kommen noch mehr „Versuchungen“ dazu. Eine zusätzliche Pilgerfreude stellte sich gestern ein (auf der Hochebene): ein herrlich erfrischender Wind, der die Sonne oft vergessen ließ (leider kam er von vorne, statt von hinten) – bei Sonne ist solch ein Wind wirklich eine Freude, bei Regen schlägt er dann ins Gegenteil um – jedenfalls lernt man auf solch einer Tour die Urgewalten und Urelemente wieder besser kennen, schätzen oder fürchten… Warum machen wir eigentlich diese Tour zum Grab des Apostels Jakobus? Einige persönliche Gründe: Eintreten in die Geschichte: Vor uns sind schon viele diesen Weg gegangen, haben die Freuden und Mühen erlebt, haben Glaubenserfahrungen gemacht, gebetet – und wir haben diese Möglichkeit auch… – Kennenlernen von Kunst: längs des Weges gibt es viele kleine und große Zeugnisse des menschlichen Geistes: Wege, Brücken, Kapellen, Kirchen, Herbergen, Häuser, Klöster – ein paar davon kennenzulernen oder wieder neu kennenzulernen… – Erfahrung von Gemeinschaft: mit fünf anderen fünf Wochen lang rund um die Uhr gemeinsam zu leben: oder besser: zu leben versuchen: es gibt schon Schwierigkeiten, Mißverständnisse, falsche Reaktionen, zu viel oder zu wenig Gesagtes, Gefühlsschwankungen, Launen, Auf-den-Wecker-fallen – aber insgesamt geht es bisher… – Training oder vielleicht besser: körperliche Grenzerfahrungen: Testen, wie weit man physisch und psychisch gehen kann: den eigenen Körper wieder erleben: von Kopf bis Fuß; oder besser und öfter: von Fuß bis Fuß und dazu den Rücken; durchhalten; weitermachen; auch manchmal gegen den inneren Schweinehund angehen; sich der Natur und den Temperaturen aussetzen; überhaupt mal viel näher und intensiver mit der Natur leben und von der Natur abhängig sein… – auch ein religiöses Moment (wenn auch nicht so bestimmend, wie ursprünglich gedacht): schließlich ist der Weg ja aufgrund religiöser Überzeugungen entstanden: Verehrung eines Heiligen, Gottessuche, persönliche Glaubenserfahrungen; ab und zu ist auch davon etwas zu spüren: in den Kirchen (wenn sie mal nicht nur Besichtigungsobjekte sind, sondern zu einem kurzen stillen Gebet einladen), bei unseren Gottesdiensten (die allerdings etwas unter dem Zeitpunkt am frühen Morgen leiden), bei eigenen Gedanken „auf dem Weg“… – sicherlich auch: mal etwas ganz anderes machen; Urlaub im Hotel gab und wird es noch genug geben: alles haben können, sich alles leisten können; hier aber auf Notwendiges angewiesen sein, auf das, was „am Wege“ liegt: eine Bar, einen Brunnen, eine Bäckerei…; die täglich neu gestellte Frage: wo und wie geht es heute abend in die Horizontale? Wirklich ein Stück „alternatives Leben“ – auf Zeit allerdings! – Schluß! Gleich geht es weiter zur ersten richtig großen Stadt auf unserem Weg: nach Burgos! Dann werden wir gut ein Drittel geschafft haben! Ob wir die beiden nächsten Drittel (Leon – Santiago de Compostela) auch schaffen werden? Ultreia!
10/9/83 BURGOS 19.30 Uhr
Endlich angekommen! Nach Atapuerca ging der alte Weg immer mehr bergan! Langsam, aber stetig: tolle Gegend, Hochebene mit herrlichen Ausblicken; inzwischen war auch die Sonne wieder gekommen und ein malerischer Himmel mit Blau und weißen Wolken; bunte Blumen (vor allem ein Teppich von rosa-violetten Kelchblüten) und Heidekraut begleiteten uns; oben angekommen: ein weites Tal breitet sich aus und ganz Burgos liegt uns zu Füßen; selbst die Kathedrale mit ihren beiden Türmen und den beiden verspielt gezackten Vierungsturm und Condestable-Kapellen-Turm waren als Silhouette zu erkennen; herrlich – bald mußten wir da sein, es war erst gegen 15 Uhr – aber denkste: der endlose Marsch auf der N 1 begann: mehr als 10 km, bei starkem Verkehr, Sonnenhitze, Gestank, Lärm, Dreck: erst einige Fabriken und Hotels (darunter auch das, wo wir voriges Jahr wohnten) und Tankstellen, dann die Vorstadt mit ihren schrecklichen Hochhäusern, die alte, kleine Häuschen aus dem vorigen Jahrhundert fast erdrücken; dazwischen eine Kirche mit herrlichem Pilgerkreuz, auf dem der Heilige mit der Muschel versteinert die Pilger anblickt; dann in die eigentliche Altstadt hinein, vorbei an der alten Pilgerherberge; dann Hotel suchen (direkt neben der Polizei, wo wir voriges Jahr den Diebstahl angezeigt haben), dann erstes Auspacken, Wäscheleinespannen, Socken lüften…; jetzt: Duschen, Klamotten-Waschen, Stadt-Bummel, Essen, wohlverdienter Schlaf! Bis morgen!
11/9/83 BURGOS (in der Kathedrale) 12.15 Uhr
Gestern abend noch gut gegessen: verschiedene Gemüsesorten als Vorspeise, Forelle, Käse, Cuajado (Dickmilch in den netten Tontöpfchen); dann prima geschlafen: in einem Riesenbett: quer und diagonal und alle Viere ausgestreckt. Himmlisch! Welch eine Wohltat, mal wieder richtig ausgeschlafen zu sein; dann zwei Blasen unter den Füßen von Gerhard aufstechen lassen; dann gut gefrühstückt; um 10.30 Uhr in der Kathedrale: Hochamt: die Andacht wurde durch die Hektik ein wenig gestört. – Nun aber genug der profanen Dinge hier im Gotteshaus; einige „sakralere“ Gedanken: zunächst der achtzackige Stern der Mittel-„Kuppel“: verspielt, in sich gebrochen, das Licht brechend und wieder spiegelnd: geheimnisvoll, faszinierend, transparent, transzendent: so wie der Stern der Weisen: bestimmen und verschwinden, führen und verbergen, begleiten und in Frage stellen: Stern als Sinnbild des Weges und des Glaubensweges: frühere Pilger werden das so empfunden haben (mit der Bitte: Stern, bleibe bei mir!); auch jetzt bleibt die Faszination und Bitte: Stern, Morgenstern, Jesus Christus, bleibe bei mir! Nett, der alte Kanoniker, der uns der Jungfrau Maria, der Patronin von Burgos, anempfahl: daß ich Priester sei, begriff er nicht; er hörte etwas von Studenten und ordnete mich als Seminarist ein: Werden Sie ein guter Priester! – Beeindruckend das Portal im Inneren der Kirche, im südlichen Querschiff: die alte Holztüre mit den beiden Hauptdarstellungen des „Einzugs Christi in Jerusalem“ und der „Höllenfahrt“: Was mögen beide Darstellungen wohl miteinander zu tun haben, welchen Bezug gibt es? Und vor allem am Eingang einer Kirche? Vielleicht: Jesus geht hinein „in die Hölle“ (indem er sich nach Jerusalem begibt, ins jubelnde und verdammende Volk) und: Jesus führt „heraus aus der Hölle“: die Erlösung ist total, zeitlich und räumlich, allesumfassend: auch bei denen, die in die Kirche kommen: so teuflisch, satanisch und höllisch Menschen auch sein können – Jesus nimmt sie an die Hand und führt sie heraus. – Und dann der kleine, bezaubernde Jakobus auf einer Relieftafel in der Condestable-Kapelle: verschlafen und verträumt sitzt er da, stützt sich auf die Muschel und lächelt sinnig: ein Sinnbild der Güte, der Zufriedenheit, der Gelassenheit, des Mit-sich und der Welt-Zufriedenseins: So werden wie dieser Jakobus!
BURGOS
Grazil durchbrochener, leuchtend weißer Stein Rheinischer Frohsinn im Herzen Kastiliens Hannes us Kölle, dat häß do joot jemaat! Vor dem Portal liegen einige heruntergefallene Bruchstücke der Fassade In der Condestable-Kapelle träumt der kleine Jacobus von längst vergangenen, besseren Zeiten Trotzdem: pulcra es et decora – es, non fuisti!
11/9/83 BURGOS (in einer Bar vor der Kathedrale) 19.15 Uhr
Nach der Kathedrale kurz in der Kirche S. Nicolas gewesen; dann Bummeln; dann unter der Platanenallee Karten geschrieben, eine Cola mit Cognac getrunken und die Leute besehen; heute ist der Tag jedes einzelnen; dann gut essen gegangen: Kastilianische Suppe, Filet, Cuajado, Wein, Kaffee…Lecker! Mittagsschlaf, Maniküre, Schuheputzen, Frisch-machen, Bummeln…
12/9/83 HORNILLOS DEL CAMINO 16 Uhr
Gestern abend um 20.45 Uhr vor dem Südportal der Kathedrale mit allen wiedergetroffen; vorher war ich noch auf der Burg: schöne Aussicht auf die Stadt und Kathedrale in der gold-gelb untergehenden Sonne; dann essen gegangen: Suppe mit Cherry, Hähnchen, Kaffee, Bier aus einem großen Krug: sehr lecker und billig; nochmals gut geschlafen; um 7.15 Uhr heute aufgestanden: alles gepackt, gefrühstückt, Geld gewechselt, Karten und Filme weggeschickt; um 10.30 Uhr Aufbruch: durch das alte Pilgerportal zum Hospital del Rey: viele Jakobsdarstellungen dort: über dem Hauptportal des Innenhofes: sitzend mit dem Buch in der Hand; an der Kirche als Matamoros: lux et honor Hispaniae; auf der berühmten Holztüre, angebetet von Pilgern; vor dem ganzen Gelände über dem Eingang zu einem Friedhof; dort waren Ornamente und Totenköpfe kaum voneinander zu unterscheiden; weiter auf der Landstraße: lange noch war Burgos hinter uns zu sehen: die charakteristischen Kathedraltürme mit der gezackten Krone der Vierungs-„Kuppel“; von der Landstraße weg: kleine Wege; in Tardajos eine halbe Stunde Pause; vor dem Nest ein schönes Pilgerkreuz; im Nest ein Brunnen mit vielen Kindern, zigeunerhaft, neugierig, ungewaschen, mit dunkelbraunen Augen; eine konnte ein paar Brocken Französisch, eine andere ein paar Wortfetzen Englisch; die Distanz zwischen den Kindern und uns wurde immer kürzer; nach einem Kaffee und einer Cola weiter: hinein in die berüchtigte Meseta; aber so schlimm war es gar nicht: die Glut der Sonne hielt sich in Grenzen, umspielt von einem leichten, frischen Wind; karge Felder; grau-weiß; nur ein einziger Schäfer; der alte originale Weg gut ausgeschildert; dann auf einem Buckel angekommen: unten liegt Hornillos; jetzt Pause im Schatten der Kirchenvorhalle.
SANTO DOMINGO DE SILOS
Etwas abseits vom camino zeigt sich der entscheidende Hinweis für die Pilger Der Herr geht als Pilger den Pilgern voran Sein Hut, sein Stab und seine muschelbesetzte Tasche machen sichtbar: Der Meister nimmt die Gestalt seines Knechtes an Ebenbild, Abbild, Urbild Vorwärts und zurück tänzeln seine unberührten Füße In die Herrlichkeit seines Vaters und in die Gemeinschaft mit den Menschen Pilgerschaft ist imitatio Christi Wege zum Himmel – Wege zur Erde Als Wegzehrung wird uns Pilgern geschenkt: Der andere neben, vor und besonders hinter mir Das göttliche Wort in meiner Hand Und das vertrauende Gebet: Herr, bleibe bei uns, besonders wenn es Abend wird
12/9/83 auf dem Weg nach HONTANAS 18 Uhr
Sonne, Stroh, weiße Steine, Disteln, verbrannte Bäume, kein Schatten, Sonne, verbrannte Grasbüschel, wolkenloser blauer Himmel, ein paar gelbe und blaue Blumen, Steinhaufen, aufgeborstene graue Erde, letzte Wasserreste in Furchen, Stoppelfelder, die Sichel des zunehmenden Mondes, Hagebutten, Sonne, Baumwurzeln, kein Haus, ein paar Ruinen, abgeflachte Hügel…und jetzt ein schattiges Plätzchen an einem Rest-Bach.
12/9/83 HONTANAS 20 Uhr
Das gottverlassene Nest endlich erreicht; der Weg durch die Sonne, Stroh…(s.o.) wollte und wollte kein Ende nehmen; dann plötzlich: geschützt und geborgen in einer Senke dieses Kaff; zum Pfarrer, aber die Haushälterin wies uns weiter an die „Bar“; dort wurden wir zu einer alten Schule-Bar-Gemeindehaus geleitet: Wasser, aber keine Toilette; viele volle Flaschen, aber kein Licht; ob es etwas zu essen gibt, wird sich noch rausstellen…sonst malen wir uns ein Kotelett oder Pollo oder Lomo oder Eier oder Tortilla oder Paella oder was die „reichhaltige“ spanische Küche sonst noch bietet…
13/9/83 HONTANAS 8 Uhr
Licht gab es dann gestern abend doch noch; und etwas zu essen: die Mutti des Dorfes brachte uns zwei Tortillas (mit Kartoffeln und Zwiebeln), dazu Salat und 2 l Landwein; danach ein wenig Karten gespielt (Skat) und dann ab auf die Liegematten; nun warten wir auf das Frühstück, das uns die Mutti wieder bringen will, und dann beginnt die Tagestour nach Fromista.
13/9/83 ITERO DE LA VEGA 15.30 Uhr
Sitzen in einer Bar bei Kaffee und Cola nach langem, sonnigen, schattenlosen Marsch durch die Lande: heute ziemlich anstrengend und die Kilometer nehmen kein Ende; die Mutti hat uns heute morgen Kaffee mit Milch gebracht; das war ein sehr billiger Aufenthalt in Hontanas: 1000 Peseten (ca. 18 DM) für das Abendessen, die Übernachtung und das Frühstück für alle sechs; gegen 9 Uhr Aufbruch; nach ca. 5 km die Ruinen des Klosters vom hl. Antonius: ehemals für die Kranken mit Antoniusfeuer; wurden hier geheilt mit dem Skapulier in Tau-Form unter Flötenklängen und Gebet: es soll geholfen haben! Nun nur noch Reste, Gebäudestücke, ein zerschlagener Kircheneingang; Fetzen einer alten Rosette, in der die Tau-Formen noch zu erkennen sind: Erinnerungen an alte, uns fernliegende und manchmal merkwürdig anmutende Zeiten; auch in einer Religion muß manchmal etwas ein Ende haben und vergehen! Weiter nach Castrojeriz (2 km): ein Pilgerkreuz am Ortseingang; leider keine Bar gefunden, etwas zum Essen gekauft und gegessen; leider war die Kirche und der Kreuzgang des S. Juan verschlossen: die merkwürdigen, arabisch-exotisch anmutenden Zapfen der vier pyramidenförmigen Turm-Eck-Bekrönungen ließen einiges Interessante vermuten; so ging es weiter: einen Eselsweg hinauf auf einen Berg; von dort herrlicher Blick zurück in die Landschaft und auf die Kirche und auf die Burg von Castrojeriz; dann weiter (ähnlich wie gestern) durch Stoppelfelder und Sträucher und Disteln und Steine (manchmal merkwürdig glänzend) und…; ab und zu eine Schafherde, die wirklich (ähnlich wie Domke es beschreibt) in einem Karree zusammenstehen und sich gegenseitig mit ihren Leibern Schatten spenden; immer weiter unter wolkenlosem, blau-silbernem Himmel und sengender Sonne; ein Brunnen spendete Schatten; dann die Reste einer alten Kirche: ohne Dach, aber Eingang und Chor noch andeutungsweise erhalten; vor und in dieser Kirche eine halbe Stunde Rast; dann über eine (alte?) Brücke den Fluß Pisuerga überquert: die Grenze zwischen den Provinzen Burgos und Palencia: ein Markierungsstein erinnert an den Jakobsweg, der durch Palencia führt; dann bald das Nest Itero de la Vega erreicht… Entgegen den Andeutungen, Empfehlungen, Prophezeiungen und Meinungen vor der Tour kann ich für mich sagen, daß sich meine Füße nach gut 14 Tagen (noch?) nicht an die täglichen Kilometer gewöhnt haben; im Gegenteil: die erste gute Woche ging sehr gut, aber dann fing es an: Blasen (linker kleiner Zeh und rechts unterm Fuß zwischen dickem Zeh und dem daneben), Druckstellen, Ermüdungen – und vor allem eine Art Reißen und Ziehen im rechten Oberschenkel (so als ob er ständig halb eingeschlafen wäre); trotz einer Salbe bessert sich das nicht – mal sehen: Aber eine Pilgertour kann ja auch keine Hüpftour durch die Lande sein! Noch eine Beobachtung; die Reaktionen der Menschen in den Dörfern auf uns sind sehr unterschiedlich; eines ist gleich: großes Erstaunen, weite Augen, Kopfschütteln, Unverständnis; aber dann gibt es Dörfer mit sehr freundlichen Reaktionen (Grüßen, Erkundigen: woher? wohin? Heiß heute?! Das ist ja ein „calvario“…) und es gibt Dörfer mit sehr abweisenden Reaktionen – wenn der Eindruck richtig ist, werden die Reaktionen aber immer freundlicher, je näher Santiago kommt: Mal sehen, vielleicht werden wir am Schluß alle mit offenen Armen begrüßt?!
13/9/83 FROMISTA 20 Uhr
Sitzen vor der alten Pilgerherberge „Los Palmeros“ und warten auf den Pfarrer, der Schlaf-Gelegenheiten haben soll, der aber gerade erst mit der Messe in der Kirche gegenüber begonnen hat. Mal abwarten! Der Weg hierher zog sich lang und sandig: ein richtiger Schafsweg, deren Spuren auch oft im hellbraun-roten Sand zu sehen waren; Stille; Sonne; nur ab und zu ein aufflatternder Vogelschwarm, ein gelber oder weißer Schmetterling, eine Libelle, eine Schafsherde…Staub, Steine, Disteln; dann das Dorf Boadilla del Camino, eine Ansammlung von Häusern und in die Hügel gegrabener Kammern (für Korn? Für Wein? Wofür?); interessant vor dem Chor der Kirche eine alte (spätgotische) Gerichtssäule aus dem 15. Jahrhundert: Muschelornamente – gegeneinander versetzt; Engel und Teufel – ein Mahnmal des Pilgerweges; leider war der Schlüssel zur Kirche nicht aufzutreiben; deshalb weiter; denselben Weg, jetzt kamen nur noch Mücken dazu…ansonsten Staub und Sonne und…ein Weg, der ständig denken läßt „Hoffentlich sind wir bald da!“ – Nun sind wir da – und warten!
14/9/83 FROMISTA 8.55 Uhr
(Im Hotel „Residencia San Telmo“): Mit dem Pfarrer gestern hat wenig geklappt: zwar einen Stempel, aber keine Unterkunft; verwies uns weiter an eine „Pilgerherberge”: ein Schuppen mit drei Betten, von denen eins durch eine ältere Französin belegt war, die seit über einem Monat vom Zentralmassiv aus auf dem Weg nach Santiago ist (mit 2000 FF wegen Devisenausfuhrbeschränkung): Sie macht täglich ca. 15 km und war hier nun schon seit drei Tagen, weil sie krank geworden war; jedenfalls diese „Pilgerherberge“ sah wenig einladend aus (Wie hätten auch 6 in 2 Betten schlafen sollen? Beim besten Willen!), so daß wir uns im Hotel der alten Pilgerherberge „Los Palmeros“ einquartierten: sehr schön, sehr gut geschlafen; die müden Füße ein wenig erholt, nachdem Helge mir wieder eine Blase aufgestochen hat (hoffentlich bekomme ich mit den Füßen und Beinen nicht noch mehr Ärger!); dann lecker in „Los Palmeros“ essen gegangen: gepflegte, gastliche Atmosphäre: eine tolle, vorzügliche, so nie gegessene kastilianische Suppe, danach Spanferkel (sehr gut!), zum Abschluß Cuajada mit Honig, das ganze abgerundet mit einigen Bierchen: So läßt sich pilgern; gestärkt und ausgeruht haben wir heute fast einen „Pausentag“: „nur“ 19 Kilometer bis Carrion de los Condes!
14/9/83 REVENGA DE CAMPOS 13 Uhr
(in einer Bar) Heute morgen zunächst in einer Bar Kaffee getrunken (gute, große Tasse); um 10 Uhr war S. Martin auf, dieses Schatzkästchen mit den herrlichen Dachsparren mit Fabelwesen, Dämonen, verrenkten Gestalten, sich selbst verschlingenden Wesen, harfe-spielenden Esel, Schulterköpflern, Grimassen – eine Welt des Skurrilen, Dämonischen, Fabelhaften – die hatten noch Sinn für „Kunst am Bau“; im Gegensatz zu den heutigen Plätzchenbäckern und Teak-Holz-Künstlern…; drinnen dann zwei herrliche Figuren: der langgezogene, hagere, kernige Jakobus (als Wandertyp) mit Pelerine (auf der eine Jakobs-Muschel und die gekreuzten Stäbe), den gekrümmten Wanderstab in der Hand, in der anderen Bibel und Rosenkranz; besonders auffallend: das wissend-weise Lächeln, eine verhaltene Fröhlichkeit; gegenüber ein Nikolaus, ein wenig gedrungen, der Kopf und die Hände im Vergleich zum übrigen Körper überdimensioniert; besonders auffallend: die netten, abstehenden Ohren… – Dann weiter auf langweiliger Landstraße (nach einem ausgiebigen Frühstück „im Glanz der Kirche“, während wir sonst nur „im Schatten der Kirche“ lagern!)
FROMISTA
Heiliger Martin, es hat dir nicht gut getan, daß man dir den Schein ewiger Jugend wiedergab Steril und gefriergetrocknet stehst du nun da im Glanz romanischer Schönheit Du bist nur noch ein distanziertes, lebloses Museumsstück Hätte man dir doch wenigstens ein paar der erotischen Dachsparren gelassen Sie hätten dich und uns mit etwas Leben erfüllt Wie schön, daß von deinem weit-ausschreitenden Jacobus ab und zu ein Stückchen Farbe abblättert Nur dadurch wirkt sein Lächeln überzeugend und ansteckend
14/9/83 VILLALCAZAR DE SIRGA 15 Uhr
Sitzen vor der Kirche und warten auf Einlaß (16 Uhr): Schon von weitem war die mächtige und wuchtige Kirche zu sehen: für die heutigen Verhältnisse des Dorfes riesige Ausmaße; aber vielleicht war das Übermaß überhaupt hier am Werk: Warum sonst die riesige Vorhalle des Südportals mit einem zusätzliche Eingang ins südliche Querschiff; auch nach Westen sieht man noch die Absicht, weiter, breiter und höher zu bauen, bis irgendwann mal eine schmucklose Abschlußwand dem Riesen-Unternehmen ein Ende setzte; noch ein paar Abschlußfiguren obendrauf, mickrig und ohne rechte Zuordnung, und dann blieb das Ganze über Jahrhunderte so – Aber eindrucksvoll immer noch das reich skulptierte Südportal: Fünf Archivolten über dem eigentlichen Portal: Heilige, Älteste, Könige und vor allem: musizierende Engel mit Blas- und anderen Instrumenten; darüber in einer ersten Zone in der Mitte die thronende Madonna mit Kind; von links nahen die drei Könige (Wege-Motiv), ganz links noch ein Engel; ganz rechts eine Verkündigungsszene; zwischen thronender Madonna und Verkündigungsszene (als Lückenbüßer? um die Drei-Zahl auf jeder Seite wenigstens einigermaßen voll zu machen?): Josef; jede Figur in einem eigenen Feld, von Säulen getrennt; darüber in einer zweiten Zone in der Mitte Christus als Weltenrichter, umgeben vom Vier-Getier; rechts und links Apostel, der zweite von links Jakobus mit der Muschel-Tasche – er wird uns auch in der Kirche erwarten… Übrigens: das merkwürdige Haus am Dorfplatz (vor zwei Jahren fotografiert) ist weg: so verschwindet Originalität!
14/9/83 CARRION DE LOS CONDES 18.30 Uhr
Am Ort des „Bergfestes“ angekommen: ca. 370 Kilometer liegen hinter uns; ca. 370 km liegen vor uns! Ein herrliches Gefühl, die Hälfte geschafft zu haben! – Darauf wollen wir heute abend einen trinken. – Kaum hatte ich eben etwas über „Originalität“ geschrieben, da kam der Ruf (von Helge), daß wir als Fuß-Pilger im Restaurant vor der Kirche etwas zu essen und zu trinken bekämen! Kostenlos! Nichts wie hin! Ein feines Restaurant! Und Senor Pablo Payo kümmerte sich reizend um uns (und die „alte“ Französin – sie ist 59 ½ Jahre alt -, die hier wieder zu uns gestoßen war): ein Krug mit Wein, der nicht zum Schütten, sondern zum direkt-in-den-Mund-Strahlen gedacht war: sehr kompliziert, sehr mit Beschlabbern verbunden, sehr durst-bekommend beim Trinken (weil der Strahl so dünn!), aber sehr originell! Dazu ein Täßchen Süppchen! Nett das Ganze! Auch einen Stempel gab es; wieder ein neues Pilgererlebnis – Danach Besichtigung der Kirche: Leider den kurz-geschürzten Jakobus nur um die Ecke gesehen; dafür aber eine Jakobus-Darstellung an der Kanzel; und das herrliche Relief (direkt an der Tür) von dem Ritter und der Dame. Von innen macht die Kirche einen sehr geschlossenen und harmonischen Eindruck, wenn auch einige Kapellen mehr Rumpelkammern als Kapellen gleichen. – Dann weiter über die Landstraße (immer zwischen riesigen, endlosen, abgemähten Kornfeldern) nach Carrion; hier von freundlichen Teenies zur Kirche Sta. Maria geleitet (wie im Konvoi); dort direkt den Pfarrer getroffen: sehr freundlich, sehr gesprächig, sehr hilfsbereit, sehr umgänglich: wurden im Pfarrsaal untergebracht: einfach, aber nett (mit Klo und Wasser), unter frommen Bildern und Sprüchen, direkt neben der Kirche…
15/9/83 CALZADILLA DE LA CUEZA 12.40 Uhr
Nach einem 10-Kilometer-Weg hier angekommen: schnurgerade, keine Häuser, kaum ein Baum, kaum ein Strauch, sehr steinig (bei jedem Schritt ein Aufschrei der Füße), nur manchmal durch ein paar Grasnarben eine Wohltat für die Füße, eine einzige Schafsherde, ein paar Schmetterlinge, Gott sei Dank ein beträchtlicher Wind – in der Mittagsglut wäre dieser Weg die halbe Hölle; so war er nur ein Viertel! Hier in dem Nest gibt es zwar keine Bar, dafür aber eine Quelle; ab hier geht es jetzt auf Landstraße noch 19 Kilometer weiter bis Sahagun. – Noch zu gestern: Nach dem Richten der Schlafgelegenheit: Waschen, Postkarten einkaufen, Kaffee und Cola trinken; leider lag die Jakobs-Kirche schon im Abendschatten: so war der herrliche, grazil-lineare, ornamentale Weltenrichter mit dem Vier-Getier und den Aposteln nur Grau in Grau zu bewundern; ebenso die herrliche Archivolte mit den Berufs-Darstellungen: Ritter, Buchleser, Schmied, Koch und vor allem ein harfeschlagender Musiker geben sich hier ein Sitz-dich-ein: herrlich wie hier das Leben in den Kirchenraum übergeht: hier wird das „ora et labora“ zur Plastik, zur intensiven Mahnung, beides miteinander im rechten Maß zu verbinden… Da uns der Pfarrer höflich, aber dringlich darauf hingewiesen hatte, daß um 20 Uhr Gottesdienst sei, gingen wir dorthin: im Raum herrliche Mischungen von hoher Kunst und edlem Kitsch: eine majestätische, sitzende Madonna mit Kind ebenso wie eine Lourdes-Fatima Gips-Figur mit Glühlämpchen; Neonröhren an romanischen Säulen; ein Herz-Jesu vor einem barocken Altarretabel – der Gottesdienst ebenso: munter hüpfende und von einem Bein auf das andere wippende Meßdiener neben dem hoheitsvoll zelebrierenden Pfarrer; besonders das Bimmeln zur Wandlung machte ihnen großen Spaß; dennoch: die Kirche war gut besucht (vom Witwen-Clan des Ortes) und der Friedensgruß nach allen Seiten gehört hier zur Selbstverständlichkeit. – In der Herberge des Pfarrers haben sich auch zwei schottische Dominikaner-Mönche, unsere „alte“ drahtige Französin und ein junger Franzose eingefunden: ein richtiges Pilgermeeting; nach dem Gottesdienst in einer „Bier-Kneipe“ ein paar Bierchen getrunken, dazu Postkarten geschrieben (bald ist das Pflicht-Schreib-Programm abgehakt; dann beginnt der Urlaub!); danach Juan Antonio angerufen, daß wir statt Freitag erst Samstag in La Virgen del Camino ankommen: Alles o.k.!; anschließend essen gegangen: zur Feier des Tages („Bergfest“!) eine Sangria getrunken: süß, aber erfrischend! Dann: Consomé mit Cherry, Fisch (Art gebackener Schellfisch); Nachtisch gab es nichts – also nach Hause und gut geschlafen: zur Isolierung unter die Schlafmatte noch Zeitungen gelegt: wie die Clochards von Paris; allmählich nimmt das Pilgerleben immer urigere Formen an! Angeblich wieder viel geschnarscht, aber gut geknackt; um 7 Uhr durch den Pfarrer geweckt; um 8 Uhr Aufbruch; in der Bar zwei Kaffee mit Teilchen; und dann über den Rio Carrion hinaus aus dem Ort, bis der schnurgerade Weg (von dem gestern schon Pablo Payo gewarnt hatte: Wasser mitnehmen!) uns in den leicht bewölkten Horizont führte…
MESETA
Endlose Grenzlinie zwischen Erde und Himmel Alle Worte verstummen auf dem Weg Nur die inneren Bildworte des Psalmisten steigen auf aus dem Inneren „Meine Kehle ist trocken wie eine Scherbe…“ „Wie der Hirsch lechzt nach frischem Wasser…“ Die Sonne scheint unbarmherzig auf ihr ureigenes Land Zerborstene Erde Und dennoch: Überall gelbe und blaue, rote und grüne, orange und violette Farbtupfer Gräser und Blumen und Ähren Wann werden die ersten Farben verblassen?
15/9/83 SAHAGUN 20.30 Uhr
Angekommen: ganz schön hart heute: 36 Kilometer; davon kaum Landstraße; die Füße und der Oberschenkel melden sich; aber keine neuen Blasen! Jetzt im Hostal untergekommen, geduscht, frisch gemacht und schon kann das Après-Pilgern wieder beginnen. Unterwegs immer die gleiche Landschaft: riesige, abgeerntete Weizenfelder; heute aber nur stellenweise blauer Himmel, ansonsten interessante Wolkenkombinationen; immer wieder sah es nach Regen aus, aber es hielt sich; zwischendurch immer mal wieder kleine, gottverlassene Nester; in einem Nest (in Ledigos) waren zwei schöne Jakobsdarstellungen (nachdem wir den Schlüssel für die Kirche besorgt hatten): eine am Hochaltar, eine Plastik: mit aufgeschlagener Bibel und etwas grimmigem Gesicht, so nach dem Motto: Wollt ihr jetzt wohl mal endlich die Botschaft annehmen!? Und eine Wandmalerei, spätes Bauernbarock: ein Matamoros; sonst wenig am Weg; dann endlich Sahagun in der Ferne, die Silhouette nicht gekennzeichnet durch Kirchen, sondern durch ein riesiges Getreidesilo, fast wie eine Kathedrale – Nun kann der Abend beginnen!
16/9/83 kurz vor BERCIANOS DEL REAL CAMINO (ca. 10 km hinter Sahagun) 12.15 Uhr
Gestern abend noch ein „Bummel“ durch Sahagun: humpelnd, stöhnend, aufjuchzend (ein Gang wie Charly Chaplin); dann ein Restaurant gesucht; gegessen: Artischocken mit Schinken, Steak, Kaffee, dazu die obligatorischen Biere – dann nichts wie in die Falle (der Franzose schlief mit mir auf dem Zimmer) – Heute um 7 Uhr aufgestanden; 8 Uhr Kaffee in der Bar; ab 8.30 Uhr: Einkaufen, Stempel holen (im Altersheim bei einer Nonne: Wir sollen beim Apostel für sie beten); Besichtigungen: S. Lorenzo mit dem herrlich gestalteten Turm im Mudejar-Stil (hufeisenförmige Gestaltungen am Backsteinbau); S. Tirzo (in der Renovierung): sehr schön die hufeisenförmigen Bögen in der Kirche, durch ein Fenster der Nordapsis schien malerisch ein Lichtstrahl; Santuario de la Peregrina: verfallen, aber mit zwei schönen Fenstern über dem Portal: hufeisenförmig mit Lappenmuster: Die Kirchen der Stadt also eine gute Mischung aus Arabischem und Christlichem: Erstaunlich, solche Toleranz; solch ein gegenseitiges sich-ernst-nehmen; vielleicht könnten so durch die Kunst einseitig-dogmatische Absolutheitsansprüche überwunden werden. – Dann über die alte Pilgerbrücke weiter Richtung Leon; über den alten camino real frances; ein ähnlich steiniger Weg wie gestern; rechts und links Stoppelfelder; ein Ochsengespann, das Stroh abtransportierte (leider war der Film voll); aber heute ein mächtiger Gegenwind: hoffentlich wird das nicht bis zum Atlantik von Tag zu Tag schlimmer!; richtig kühl heute; dann dieses sonnige, windgeschützte Plätzchen in einer Baumgruppe: Zweites Frühstück, kurze Erholung, Ausruhen der Füße (heute geht es; aber die Schuhsohle wird immer dünner, so daß ich alle Unebenheiten stärker spüre!) – Gestern haben wir übrigens wieder eine neue Provinz erreicht: Leon…
SAHAGUN
Braun-rote Backsteine formen zugleich Kreuze und Hufeisenbögen Hier stoßen zwei Welten aufeinander und verbinden sich Sonst gab es überall viel Blut und Morden Selbst der heilige Apostel mußte dafür seinen Pilgerstab zum Schwert zurückschmieden San Lorenzo, La Peregrina, San Tirzo, ihr mahnt alle suchenden Menschen: Gegensätze lassen sich vereinen auf dem Weg zur Wahrheit An ihrem Ziel fallen sie ineinander
16/9/83 MANSILLA DE LAS MULAS 21 Uhr
Aber bevor die Stadt Leon zu erreichen ist, muß dieses Nest erobert werden: Ganz schöne Arbeit heute; erst mit der Dämmerung kamen wir hier an; erstbestes Hotel gesucht, ganz nett, wenn auch ein wenig teuer; aber nach 35 Kilometer (und das zwei Mal hintereinander) ist man nicht mehr so wählerisch; heute quälte und quälte sich das Gehen so vor sich hin: da waren die kaputten und zerschundenen Füße; da war der lange, steinige Weg zwischen den Stoppelfeldern; da war aber vor allem der ständige, starke, ziemlich kalte Wind von vorne: fast den ganzen Tag blies er uns ins Gesicht und machte das Gehen und die Kommunikation zur Qual: in Schräglage mußte dagegen angegangen werden; deshalb kamen wir viel langsamer voran; deshalb mußten wir öfters eine Pause machen: in Bercianos del Real Camino das erste mal: Kaffee-Cola; dann erst mal verlaufen (kamen 2 km vom Weg ab: in Graneras); dann wieder Pause in El Burgo Ranero: in einer urigen Kneipe-Bar-Schenke: wie bei Alibaba und die vierzig Räuber oder in einer anderen Spelunke: kartenspielende, saufende, grölende Männer: Bucklige, Bekloppte, Beknackte, (halb) Besoffene…Wenn man einen Film über das Pilgerwesen im Mittelalter drehen sollte: hier könnte man die Hauptdarsteller finden: urige, kernige, zerfurchte, gezeichnete, kantige Gesichter – die Bar hieß „Zur Lagune“, weil sich davor ein Tümpel (mit Pferd) erstreckte; dann weiter auf dem steinigen Weg gegen den Wind: nächste Pause in der Nähe der Eisenbahnstation von Villamarco: im Windschatten der aufgestapelten Rucksäcke; dabei einen ganz frischen Maulwurf gesehen, der gerade aus der Erde krabbelte; niedlich, aber kaum lebensfähig; weiter auf dem Weg, immer gegen den Wind, immer den spitzen Steinen ausweichend, immer grüne Trampelpfade am Rand suchend; vor uns der Himmel ziemlich düster und bedrohlich: hoffentlich hält sich das Wetter; dann wieder Pause in Reliegos: hier war die ganze Bar voller Menschen: ein dreitägiges Fest, kurze Gespräche mit einigen Alten: woher? Wohin? Wie lange?; dann nochmals fünf Kilometer, immer dieses Kaff vor Augen; immer dunkler und schließlich da: am Ortseingang wieder eine „Freude“ des Pilgerlebens entdeckt: Bürgersteige; nach Kilometern auf spitzen Steinen und unebenen Wegen ist das wirklich eine Wohltat: glatter, ebener Grund unter den Füßen. – Die Freuden und Leiden der Pilger sind übrigens manchmal ambivalent: so z.B. der Wind: vorige Woche habe ich ihn noch zu den Freuden gezählt, nach den gestrigen und heutigen Erfahrungen gehört er auch zu den Unannehmlichkeiten und Gefahren: der Wind als janusköpfiges Element! Jetzt Ruhe. Erholung, Essen, Schlafen…(vorher hat mir Gerhard noch eine Blase am kleinen Zeh aufgemacht).
17/9/83 Kilometerstein 320 (ca. 10 km) vor LEON 14 Uhr
Gestern: Essen: Artischocken mit Schinken, Lammfleisch, Bier; dann: wohlverdiente Ruhe; heute um 8 Uhr aufgestanden; um 9 Uhr eine Bar gesucht; aber Samstagmorgens scheint das wohl etwas schwierig zu sein; einkaufen gegangen; Siegel beim Pfarrer geholt; schließlich im Hotel Kaffee getrunken; gegen 10.30 Uhr Aufbruch – über die alte Brücke, immer Landstraße; Pause in Puente de Villarente: Bar mit Wirt, der 10 Jahre in Stuttgart war, wollte uns an allen Ecken und Enden übers Ohr hauen; Schinkenportion für 250 Peseten ausgezeichnet (auf Tafel), Preis wurde während des Bezahlens in 300 verändert; nach kräftigem Protestieren nur 250 bezahlt: Schlitzohr! Weiter auf Landstraße; jetzt wieder Pause in Bar: Cola, Cola, Cola… – Heute sind wir schon drei Wochen unterwegs – es kommt mir vor wie drei Monate: jeden Tag etwas anderes sehen, erleben, er-gehen: die Landschaften, die Sehenswürdigkeiten, die Leute, die Gruppe, die Kilometer…Zeit und Raum erweitern sich; Pilgern ist inzwischen schon zum Da-Sein geworden; eine generelle Erfahrung: das Schleppen des Rucksacks ist nicht solch großes Problem wie gedacht; die Füße und Beine sind ein größeres Problem als gedacht; manchmal kommt es anders als gedacht…
17/9/83 LA VIRGEN DEL CAMINO (im Dominikaner-Konvent) 19 Uhr
Ha, endlich mal wieder frisch: warm geduscht, Ausgehanzug, viel gewaschen, Einzelzimmer für Exerzitanden, Blick auf die Kathedrale von Leon (ganz in der Ferne im Abendlicht), ein Joghurt gegessen, Haare gewaschen…fühle mich rundherum wohl; um 18 Uhr sind wir hier gelandet; scheußliche Kirche, aber herzlicher Empfang durch Juan, den wir gleich wieder treffen werden: Klönen, (hoffentlich!) etwas zu trinken, um 21 Uhr haben uns die Nonnen zum Abendessen eingeladen: das Pilgerleben macht wieder Spaß; dabei vergißt man auch die schmerzenden, blasenden, zerrenden, verkrampften…Füße und Beine – Santiago, wir kommen dir näher! – Von der letzten Bar ging es über eine langweilige Umgehungsstraße um Leon herum nach Virgen; der einzige Trost: ab und zu ein schöner Blick in den Talkessel von Leon, aus dem die Kathedrale mächtig emporragt; selbst gegen die vielen, geschmacklosen, monotonen Hochhäuser weiß sie sich noch durchzusetzen; morgen werden wir uns das Ganze aus der Nähe betrachten! –
18/9/83 LEON 14.30 Uhr
(in einem Restaurant) – gerade gut zu Mittag gegessen: Spezialsalat, Tortilla mit Spargel, Bier, Kaffee – Gestern abend sind wir mit Juan etwas durchs Dorf bummeln gegangen; Besichtigung der Kirche: nicht schöne, aber geschmacklose Kombination von alt und neu – überhaupt: die Versuche, Neues zu gestalten, sind eher amüsant als ansteckend: die Fassade der Kirche soll das Pfingstfest darstellen: die abgehobene Maria und die Apostel; der Jakobus besteht nur aus Muscheln: Muschelhaare, Muschelbart, Muschelkleid…; das ganze neo-expressiv, auf Teufel-komm-raus modern; ein Bierchen in einer Bar läßt das Schlimmste vergessen; um 21 Uhr bescheidenes, aber nettes Abendessen bei den Nonnen: Suppe, Eier, Kroketten, Wein; dann gut geschlafen, wenn auch manchmal durch den Lärm des Volksfestes wachgeworden; aber für die Füße und Beine war dies eine erholsame Nacht; um 8.15 Uhr aufgestanden: nochmals Klamotten gewaschen, gefrühstückt, mit dem Bus (endlich mal wieder ein anderes Fortbewegungsmittel als die Beine!) nach Leon gefahren; in der Kathedrale: kurze Besichtigung; Siegel von einem unfreundlichen Menschen bekommen (kein Gruß, kein Satz, lediglich Datum und Stempel: Ist das der herbe Charakter der Leonenser?); um 11 Uhr Messe (dabei dauerte die Predigt mit ständig erhobenem Zeigefinger am längsten!) in der Jakobskapelle; der Jakobus dort über dem Hochaltar repräsentiert einen etwas überheblichen Typ; den linken Fuß (völlig unmotiviert) auf ein Podest gestellt (als ob er etwas zu besiegen hätte), den Blick zum Himmel erhoben, den Pilgerstab zur Seite gehalten, als ob er ihm lästig wäre; in der Kathedrale auch die „alte“ Französin (Luze) und den Franzosen wiedergetroffen: Pilger-meeting; dann Besichtigung des Kreuzgangs und des Museums; davor das schöne, polychrome Nordportal mit einem herrlichen Jakobus (mit tollem Hut und Muschelkette!); auf der Renaissance-Tür zum Kreuzgang ein Matamoros; viele schöne Darstellungen im Kreuzgang an den Grabmälern: überall tauchen Pilger auf: unter dem Kreuz, beim Weltenrichter: das Ziel und der Grund der Pilgerei werden anschaulich sichtbar gemacht, sehr schöne Gewölbegestaltungen mit herabhängenden Schlußsteinen; dann eine langweilige Besichtigung des Museums; zwei schöne Sachen: ein romanischer Comics mit Darstellungen aus dem Leben des Jakobus und eine Darstellung eines anbetenden Königs vor Maria mit Kind (Wegemotiv; auch wenn nur einer von den dreien übrig geblieben ist); ansonsten eine Ansammlung romanischer Madonnen wie im Panoptikum; dann nach S. Isidoro (nur von außen; das Pantheon war geschlossen); Bummel durch die Stadt (Tanzgruppe); italienisches Restaurant gesucht und gefunden, aber leider geschlossen – und jetzt hier! – Nach einer Mittagspause werden wir um 16 Uhr Juan vor dem Hauptportal der Kathedrale treffen…; die Portal-Gewändefiguren stehen wieder am alten Platz (frisch aufgemöbelt; voriges Jahr waren sie verschwunden) – einträchtig nebeneinander: Johannes (mit Ölfaß) und Petrus (mit Schlüssel) rahmen Jakobus (in Pilgergewandung, mit Muschel am Hut) ein; das Südportal zeigt ein ähnliches Motiv wie das Südportal in Burgos: die „himmlische Schreibstube“: aber hier noch gestelzter, noch staksiger, noch gewollter: die Symbole der Evangelisten umgeben den Christus und je zwei Evangelisten an Schreibpulten sind hintereinander gestaffelt, wie in einer Evangelistenschule, aber nett…
LEON
Majestätisch und machtvoll verbindet die Kathedrale französische Harmonie mit leonesischem Stolz Alles hat sein Maß und seine Mitte Jacobus steht in der Mitte von Petrus und Johannes La Virgen Blanca sitzt in der Mitte des Kapellenkranzes Christus thront in der Mitte der Seligen und Verdammten Im Maß und in der Mitte bleibt genügend Platz für Notwendiges und Sonderbares des Alltags Das getaufte Licht der Fenster umspielt leise das Kapitell am Zugang zur Santiago-Kapelle, das seine eigene Säule verschlingt – den Engel am Eingang zum Coro, der sich einen Dorn aus seinem Fuß zieht – und die Pilger-Krüppel am Sarkophag des Rodriguez, die ihr tägliches Brot zum Überleben erhalten Auch sie werden alle ihre Mitte erreichen
18/9/83 LA VIRGEN DEL CAMINO 18.30 Uhr
Sitzen in einer Bar gegenüber vom Kloster, wo wir schlafen; nach einer Busfahrt aus Leon heraus in einem übervollen Bus (die berühmte Sardinenbüchse), mit leichten „Unfällen“: Fuß eingeklemmt in offener Tür, großes Geschrei und Hallotria…; der Nachmittag in Leon war dagegen sehr geruhsam: nach dem Mittagessen Siesta vor der Kathedrale mit Kaffee; um 16 Uhr kam Juan; nettes Pläuschchen: Drei Pilgerbegebenheiten, die Juan erzählte: Voriges Jahr waren Pilger mit Pferden da; und da das Kloster verpflichtet ist, Pilger aufzunehmen, wurden die Pferde in den Hof gestellt; dieses Jahr war ein Pilger da, der eine Herzoperation hinter sich hatte: deshalb hatte er einen Hund dabei, der die Lasten trug; und dieses Jahr war ein Pilger da, der ein Gelübde abgelegt hatte, den ganzen Weg schweigend zurückzulegen; deshalb „konversierte“ er mittels Zettel; Vorschlag von Gerhard: die Strecke mal mit einem Känguruh zurückzulegen und das Gepäck im Beutel zu verstauen…; nach herzlicher Verabschiedung von Juan (der zu einem Priestertreffen nach Burgos fahren mußte und der versprach, im nächsten Jahr wieder in Düsseldorf aufzutauchen) bummelten wir Richtung San Marco; unterwegs ein dickes, fettes Eis mit Riesenhörnchen; dann S. Marco mit den letzten Sonnenflecken auf der Fassade, dem Matamoros, den Köpfen und den Muscheln, die wie mit Förmchen gebacken auf die Fassade der Kirche geklatscht sind; davor das schöne Pilgerkreuz mit dem kleinen, aber unverkennbaren Santiago unter der Madonna; ein Gang über den Fluß: die alte Pilgerbrücke, über die die Pilger aus der Stadt auszogen mit der Fassade von S. Marco dahinter: malerisch…Dann zurück mit dem überfüllten Bus nach Virgen: Bar, Bier, Fotos von der Kirche und von der blanken Nase des hl. Frolan, an die alle kleinen (und größeren!) Jungen und Mädchen packen, um einen Partner – Partnerin zu finden: ganz blank und abgenutzt ist die Nase: der Trend geht hier nicht zum Single!?…Prost!
VIRGEN DEL CAMINO
Die Mutter des Herrn, die hier erschien – Der Apostel des Herrn, der hier ganz auf sein Abzeichen reduziert wurde – Sie sind den Menschen auf dem Wege weit entrückt Zum Greifen nahe steht ihnen der kleine Heilige am Seitenportal San Froilán, der frühere Einsiedler und spätere Bischof Seine glänzend-blanke Bronze-Nase erzählt von vielen Wünschen, Hoffnungen, Träumen Freund oder Freundin, Partnerschaft oder Ehe – jedenfalls viel Glück Ein kleines Mädchen greift verstohlen zur Nase und verschwindet um die Ecke Das nächste Brautpaar zieht unter brausenden Orgelklängen in die Kirche Irgendjemand hat in letzter Zeit versucht, die Nase mit einer Zange abzukneifen
19/9/83 HOSPITAL DE ORBIGO 14.30 Uhr
Sitzen hier in einer Bar bei Cola und Wasser vor der wunderschönen alten Pilgerbrücke mit den 20 Bögen (über die Länge gehen die Angaben auseinander: 104 m oder 750 m); gegenüber auf der Fassadenkrönung einer neuen Kirche ein Storchennest mit einem richtigen Adebar darin: herrlich hier! Nach einem flotten Marsch (schon 25 km heute zurückgelegt!) sind wir hier pünktlich zum Mittag-Imbiß gelandet: Brot, Käse, Sardinen, Joghurt; heute morgen um 6.30 Uhr aufgestanden; um 7.30 Uhr los: Kommen aus dem Haus, findet auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig schon eine Prozession statt: mit Gebet und Gesang (im Dunkeln, bzw. Morgengrauen!); wir haben uns 10 Meter angeschlossen, dann links ab in die Bar; ein großer Kaffee und etwas Süßes; unterwegs einen straßenüberquerenden Waschbären gesehen (Premiere!); weiter bis Villadangos del Paramo; dort Pause in einer Bar: der Mann oder Sohn: Säufer: schlich sich immer von allen Seiten ans Getränkeregal und bediente sich; sah die Mutter-Frau das, gab es ein großes Gezeter; Helge und Gerhard spielten Kicker wie die Wilden: für ein paar Peseten; einkaufen und weiter; nochmals nach 5 km eine Pause am Wegesrand und dann durch bis Hospital de Orbigo: wohlverdiente Mittagspause… – Gestern abend nach dem Bar-Besuch noch ein Stündchen geknackt; dann Abendessen bei den Nonnen (Suppe, Sandwiches, Tomaten mit Eiern und Früchte); dann direkt ins Bett: der Erholungstag und die Ruhe haben den Füßen und dem ganzen „Bruder Leib“ sehr gut getan; mit frischer Kraft kann es nun ins Gebirge gehen!
19/9/83 SAN JUSTO DE LA VEGA 18.15 Uhr
(in einer Bar; 3 km vor Astorga) Irgendwann am Anfang der Tour hat Helge mal gesagt: Wenn wir hinter Leon sind, werden wir uns fühlen „wie auf der Zielgeraden“: und tatsächlich – heute läuft es wie beim Endspurt: Kilometer um Kilometer: und die Füße und alles spielen erstaunlich gut mit; die Landschaft wird wieder hügliger, grüner, fruchtbarer; im Hintergrund am Horizont breitet sich das Gebirge aus; zwischendurch noch eine Pause am Wegesrand, in einem Birkenwäldchen und dann weiter; immer ca. fünf Kilometer (oder eine Stunde) und dann wieder eine viertel Stunde Pause: das macht (fast) überhaupt keine Schwierigkeiten und läßt selbst den heutigen Tag mit der längsten Tagesetappe (ca. 40 km) gut überstehen; dann am Kreuz des hl. Toribio ein herrlicher Blick in die Landschaft und im Tal liegt Astorga vor uns ausgebreitet: die Kathedrale in rot-rosa und der Bischofspalast in grau sind gut zu erkennen; mittlerweile ist auch „Bruder Wind“ wieder heftiger, aber erfrischend; jetzt schmeckt der Cognac (oder auch zwei) mit der Cola (auch zwei) wieder prima (zur Verdauung der Sardinen vom Mittags-„Menü“); urig hier die Bar: lauter spielende, ältere Knaster-Knacker (ca. 20) mit Karten in den Händen; in der Pinte ein Huhn im Käfig: fast wie in Sto. Domingo de la Calzada – Übrigens haben wir neulich mal ausgerechnet, daß jeder von uns auf der Pilgertour ca. 400 Flaschen leert (Cola, Limonade, Wasser, Bier, Wein; ca. 10 Flaschen pro Tag) und ca. 100 Tassen Kaffee trinkt (ca. 3 pro Tag) – aber der Wasserhaushalt muß ja stimmen! Heute, wie auch an den letzten Wandertagen, ist mir die Bedeutung des Schattens wieder neu aufgegangen: wie er mitwandert, sich dreht, jedem Ding und jeder Person ein zweites (sich wandelndes) Dasein schenkt: morgens liegt er weit und lang vor uns; dann dreht er sich im Uhrzeigersinn; abends ist er langgestreckt im Rücken: so bei uns selbst, so bei den kleinsten Steinchen und Körnchen auf dem Weg (erstaunlich, was ein kleiner Krümel abends für einen langen Schatten werfen kann); die Veränderung des Schattens, der vor einem liegt – hin zum Schatten, der hinter einem liegt, könnte zum Gleichnis des Pilger-Daseins werden! Nicht ohne Schatten sein, aber nicht ständig hinter dem Schatten herlaufen, sondern ihn (wissend) hinter sich lassen!
20/9/83 ASTORGA 8 Uhr
Im Krankenzimmer des Collegio Sta. Maria: Gott sei Dank nicht selbst krank, sondern hier Pilgerherberge gefunden, bei holländischen Brüdern; sehr nett und zuvorkommend; nach 19 Uhr in Astorga gelandet; mit Gerhard das Collegio gesucht, dann eingezogen, frisch machen, Abendessen gehen: Artischocken, Schwertfisch, Kaffee, Bier, Wein; war gar nicht so einfach, ein Restaurant zu finden – dieses Astorga macht den Eindruck eines ausgesprochenen Provinznestes; die Leute starren einen wie das achte Weltwunder an und abends absolut nichts los; schön aber die Fassade der Kathedrale im untergehenden Sonnenlicht; und dann der Bischofspalast von Gaudi: wirklich schon ein Frühwerk der Genialität! Einfallsreich und kreativ dieser eigenwillige Mann! Wie kam wohl ein Bischof Ende des 19. Jahrhunderts dazu, sich einen solchen Bau hinsetzen zu lassen? – Heute morgen scheint es kühl und schattig zu sein, zum Laufen sicherlich gut.
20/9/83 STA. CATALINA DE SAMOZA 14.30 Uhr
Die hl. Katharina hört sich hier sehr chinesisch an; wir sitzen hier im Schatten des letzten Hauses des Dorfes, das menschenleer und ausgestorben und mit geschlossener Bar als Geister-Dorf keinen einladenden Eindruck macht; dafür aber ein Pilgerkreuz! (Foto!); vor uns das herrliche Panorama des Gebirges, das sich in langgezogenen, hintereinander gestaffelten Zügen am Horizont erstreckt, bewaldet und mit einigen gekräuselten Wölkchen verziert: sieht eigentlich sehr harmlos und freundlich aus; hoffentlich trügt der Schein nicht! – Heute morgen haben wir nach einem Kaffee in der Bar zunächst die Kathedrale und dann den Gaudi-Palast besichtigt; an der Kathedrale sehr bemerkenswert das „Königsportal“ an der Westseite mit den beiden merkwürdigen und für ein Portal ungewöhnlichen Darstellungen, die jeder Besucher fast in Augenhöhe wahrzunehmen hat: links die Vertreibung der Händler aus dem Tempel und rechts Jesus mit der Ehebrecherin: Jesus dargestellt in dem Moment, da er in den Sand schreibt (steht auch darunter: „er aber schrieb in den Sand“): Beide Darstellungen haben meiner Meinung nach einen sehr kritischen Anklang: die Tempelaustreibung als Mahnung gegen jede materielle Geschäftemacherei in der Kirche und die Ehebrecherin-Szene als Mahnung gegen jeden moralischen Druck und Fanatismus in der Kirche (sicherlich habe ich damit meine eigene Interpretation an die Funktion der beiden Reliefs herangetragen; aber wer weiß, ob nicht auch Künstler und Theologen versteckt ähnliche Aussagen machen wollten!?); über der Tempelszene eine Blindenheilung, wobei der Blinde als Pilger dargestellt ist (mit Stab und Wasserflasche und Hut); ein Hund (der als einziger die Umrahmung durchbricht) zerrt an der Kordel, mit der der Blinde sein Gewand schürzt; im Inneren der Kirche, deren Raumgefüge ein Coro bestimmt, ist in all der Dunkelheit nur Goldglitzerndes zu erahnen, wenig Konkretes zu entdecken. – Dann aber der Gaudi-Palast: auch von innen ein Meisterwerk mit einer grandiosen Mischung von Stilen (Arabisches mit Jugendstil, Gotisches mit Byzantinischem, Romanisches mit Gaudischem) und Materialien (Holz, gebrannte Kacheln, Sandstein, Glas, Fresken, Marmor, Sgraffiti…) – besonders schön die Ansammlung der Jakobsfiguren: sitzend, wandernd, lehrend, kniend betend, zu Pferd (nicht als Matamoros), kämpfend…ein Heiliger mit vielen Gesichtern, abwechslungsreich und vielseitig – wie der Weg hin zu seinem legendären Grab!
20/9/83 RABANAL DEL CAMINO 20 Uhr
Sitzen in der einzigen Bar („El camino de Santiago“) und versuchen jetzt, etwas zu essen zu bekommen; Einweisung ins „Pilgerquartier“ ist schon erfolgt: ein Schuppen mit Holzboden: richtig urig; aber mit Bier, Cognac, Skat-Spielen kann man das Pilgerleben ertragen: ein interessantes Dorf; der Weg hierher war heute ruhig und gemütlich: nur 20 Kilometer; durch eine Landschaft, die immer schöner wird: wie eine Heidelandschaft mit kleinen Bäumen, Heidekraut, Eichen, kleinen Flüssen, Ginster – langsam ansteigend, sehr ansprechend.
21/9/83 2 km hinter FONCEBADON 10.45 Uhr
Sitzen hier in 1500 m Höhe auf einem Hügel mit einer herrlichen Landschaft rings um uns herum: sanfte Berge bis hin zum Horizont, Heidekraut, kleine Büsche, blauer Himmel, Sonne, Vogelgezwitscher – eine wunderschöne Welt; der Weg hierher von Rabanal ging immer bergan; durch das verlassene, fast völlig ausgestorbene Dorf Foncebadon: eingestürzte-strohgedeckte Häuser, die Kirche eine Ruine, einige Hunde, ein Schaf in der Tür; ein besonderes Morgenerlebnis: das Überholen einer Schafsherde; merkwürdiges Gefühl, durch die Tiere hindurchzulaufen und sie links und rechts abhauen zu sehen; gestern abend gab es noch etwas zu essen (Brot, Thunfisch, Oliven…), dann schon um 21.30 Uhr auf die Matte; bis 8 Uhr geknackt, kurze Morgentoilette am Dorfbrunnen, weiter – gestern abend und Nacht gab es auch einen Pilger, den wir schon öfters gesehen haben: einen 62-jährigen Franzosen, der in Paris aufgebrochen ist – mit 17 kg Gepäck, beide Hände voll (einschließlich Stativ).
21/9/83 RIEGO DE AMBROS 15 Uhr
Sitzen in einer Bar (mit einer „Glocken-Spiel-Anlage“, die der Wirt mit hämischer Freude mehrmals in Gang setzte) bei Cola und Schinken und erholen uns vom Vormittag und Mittag; nachdem wir bisher im Gebirge drei Pausen mit Brot und Wasser gemacht haben, gibt es jetzt etwas zwischen die Zähne – Hm, lecker, der Schinken! Aber für das Brot und Wasser entschädigte immer wieder die Landschaft – nach den Pyrenäen ist dies wohl landschaftlich der schönste Tag: weite Ausblicke, grüne Hügel, Brombeeren, Heidekraut, Disteln – „merveilleux“ sagte der Franzose, der uns ein Stück begleitete, immer wieder. – Hinter Foncebadon dann das Eisenkreuz auf dem Steinhaufen, auf den seit Generationen die Pilger ihre Steine werfen; auch ich habe einen Stein dazugeschmissen: ein Zeugnis der Geschichte, das sich selbst ergänzt. Dann auf einmal auf der Höhe der Blick ins Tal von Ponferrada – herrlich, und dahinter wieder ein Gebirgszug, der uns morgen erwartet. – Unterwegs überholten uns drei französische Radfahrer unterwegs nach Santiago – kurzer Plausch; zwischendurch Gespräch mit dem Franzosen: so wird die Tour auch zum Zeichen der Völkerverständigung: der Apostel vereinigt alle! – Noch eine Pilger-„Versuchung“ (eigentlich schon seit den Pyrenäen): Brombeeren am Weg: immer wieder laden sie schwarz und glänzend und prall und süß ein, stehenzubleiben und zu pflücken – aber so werden natürlich keine Kilometer geschafft! Apropos Kilometer: Wir haben jetzt keine 200 Kilometer mehr bis hin nach Santiago! – Gerade ist mir ein halber Zahn weggebrochen – hoffentlich komme ich nicht ohne Zähne nach Hause!
CRUZ DE FERRO
Das rostige Zeichen des Heils scheint in den blauen Himmel einzutauchen Jeder Pilger hat versucht, mit seinem Stein diesem Zeichen auf der Erde Halt zu geben Ein steinernes Glaubens-Zeugnis der Vergangenheit Ein steinernes Gemeinschafts-Zeugnis in der Gegenwart Ein steinernes Hoffnungs-Zeugnis für die Zukunft Die Steine werden den Himmel nicht erreichen
21/9/83 MOLINASECA 17 Uhr
Sitzen in einer Bar mit Blick durch die offene Tür auf die alte Pilgerbrücke; im Fluß waschen Frauen ihre ganze Wäsche (Foto); ich selbst sorge mich um meinen Flüssigkeitshaushalt: Cola, Bier, Cola, Bier…; der Weg über den alten Camino runter von Riego war herrlich: steinig, aber eine tolle Landschaft, tolle Vegetation: streckenweise duftete es wie in einer orthodoxen Kirche: nach mildem, wohlriechendem Weihrauch; Anlaß über alte Meßdiener-, Schulmessen-, Kaplans- und andere Kirchendönnekens zu klönen: Weißt du noch, damals…? Schellen, Weihrauch, Meßwein… – der Glaube war konkreter, greifbarer, sinnlicher; vielleicht wäre alles anders gelaufen, wenn das „Konzil der Buchhalter“ und die ganzen Bilderstürmer danach mal den Camino vorher gelaufen wären: Wenn sie den Glauben mal bis in die Füße gespürt hätten: Vielleicht wären sie dann weniger symbolfeindlich und zeichenunlustig gewesen; hätten dann vielleicht den Glauben konkreter, sinnlicher, handfester, bildhafter gelassen – und damit glaubens-adäquater – vielleicht…!?
22/9/83 PONFERRADA 9 Uhr
Liege im Bett eines kleinen Hotels, das auch schon mal bessere Zeiten gesehen hat; aber gut ausgeschlafen und erholt und fähig, zu neuen Kilometern; gestern der „Einzug“ in Ponferrada war wieder ein wenig so wie bei allen größeren Städten: Ponferrada gehört zum Ruhrgebiet Spaniens: mit Kohlehalden, vielen Banken und wenig Sehenswertem; vorher einige Zeit mit dem Franzosen gelaufen: 62 Jahre, pensioniert seit April, war Bauingenieur und Architekt, wohnt im 10. Arrondissement in Paris, am Montmartre, ist in der „Anbetungs“-Legion von Sacré Coeur, geht jeden Tag in die Kirche, sehr meditativ, ein wenig spinnerig, aber zäh und nett!; das angegebene Hotel in der Altstadt war besetzt; Gerhard und ich gingen auf Suche: haben diese Absteige hier in der Neustadt gefunden; gleichzeitig Filme gekauft; frisch gemacht; Andrea hat mir eine Blase aufgeschnitten: an der rechten Ferse: jetzt fängt es in den hinteren Fußbereichen wohl auch noch an!?; Abendessen gegangen: Salat, Fischsuppe, großes Kotelett, Whisky-Torte, Kaffee, Bier; zum Abschluß eine gute Flasche Weißwein der Gegend, die Gerhard zu seinem bestandenen zweiten Staatsexamen springen ließ; beim Essen auch noch die dicke Plombe aus dem abgebrochenen Zahn verloren; völlig lädiert werde ich in die Heimat zurückkehren; materiell ärmer, aber hoffentlich spirituell bereichert – „Man kann nicht alles im Leben haben!“ (Oberbergischer Weisheitsspruch) – Auf, das Bierzo-Gebirge wartet!
22/9/83 CAMPONARAYA 14 Uhr
Sitzen in einer Bar und halten Mittagsmahl; das übliche: Cola, Bot, Wurst, Käse, Danone, Möhren; heute morgen schleppender Abmarsch: Aufstehen, Fertigmachen, Bar (Kaffee), Einkaufen (was ich gerade verspiesen habe), Packen (dabei zwei Teilchen gemuffelt), Bar (Kaffee und Cola), Brief an Pfarrer von St. Palais geschrieben (wegen unserer Rückkehr), vergeblich einen Pfarrer wegen Stempel gesucht, beim Touristenbüro auch einen frommen Spruch und Stempel bekommen, meinen Rucksack von Helge repariert bekommen… – mit Glockenschlag 12 Uhr brachen wir in Ponferrada auf; bisher nur durch Vorstadtstraßen und Vorort-Siedlungen gekommen; zum Teil vorbei an riesigen Kohlehalden – wie in Bottrop, allerdings mit Aussicht auf bessere Gegenden.
22/9/83 CACABELOS 16 Uhr
Sitzen hier im Innenhof einer Weinkellerei mit dem alten Hospital San Lazaro für die Pilger im Rücken: deshalb gibt es einen Krug Wein gratis; sind jetzt mehrere Kilometer durch Weinfelder gelaufen (bei glühender Hitze und blauem Himmel): knorrige, alte, kleine Stämme mit Reben und Trauben: dunkel-blau-violett und grün-gelb-gold abwechselnd glänzend: prall und einladend (manchmal aber auch dürr und vertrocknet): Ist dies eine Pilger-Versuchung oder eine Pilger-Freude?: Jedenfalls haben wir zugegriffen: Der Camino ernährt seine Pilger – und manchmal nicht schlecht! Frei nach dem Verfasser des 104. Psalm: „Die Weintrauben erfreuen des Menschen Herz“ – eine tolle, fruchtbare Gegend! Welch ein Kontrast zwischen den schwarzen Kohlehalden und dieser grünen Landschaft im Bierzo-Vorland! – Jetzt auch noch eine herrliche Bohnen-Kartoffel-Fleisch-Suppe! Hmm! Superbe!
22/9/83 VILLAFRANCA DEL BIERZO 20.30 Uhr
Nach der Suppe gab es dann noch Besichtigung der Weinkellerei, Gespräch und Stempel vom großen Chef im Dorf – Prada a Tope – (verewigt auf Hauswänden, auf T-Shirts, auf Wein-Etiketten, auf Stempel: wie der „große Bruder“ blickt er von überall herab, aber nett!); dann Kosten der eingelegten Kirschen und weiter; aber nicht viel: schon kam der Fluß Cua, verlockend zum Baden, und alle anderen stürzten sich in die kalten Fluten; wieder Pause in der dazugehörigen Bar; man hat heute den Eindruck, daß wir im Urlaub sind; dann langsam bergauf, das Gebirge immer vor Augen, Richtung Villafranca; außer einer kleinen Trinkpause ging es weiter bis zum Ziel, das wir gerade noch in der untergehenden Sonne erreichten; Helge und Andrea suchten ein Hotel; ich noch schnell zu der Jakobus-Kirche, die gerade noch die letzten Sonnenstrahlen mitbekam; vor allem am herrlichen, romanischen Nordportal waren die entscheidenden Szenen noch im goldenen Abendsonnenlicht: überall die hl. drei Könige: anreitend vor der Stadt, fragend vor Herodes, anbetend vor dem Kind, unter der gemeinsamen Decke liegend vor dem Engel (eigentlich doch ein Motiv aus Südfrankreich, wie kommt es wohl hierher?) und reitend vor dem Kreuz: fast die in Stein gehauene Legende vom vierten König; einzigartig: diese Kombination von den reitenden hl. drei Königen vor dem Kreuz; überhaupt die ganze Fülle der Darstellungen ein immer neuer und anderer Hinweis auf das Unterwegs-Sein: suchen, fragen, Umwege machen, anbeten, niederknien, sich anrühren lassen durch göttliche Fingerzeige, sich unter das Kreuz stellen, falsche Wege vermeiden, vom hohen Roß herabsteigen…die Magier aus dem Osten als erste Pilger! (Übrigens ist dies das Portal, das die gleichen Vergünstigungen gewährte für kranke Pilger wie der Einzug in Compostela!) Aber nun wird es wieder konkreter und etwas näher dem Pilgerleben (das nicht nur aus dem Pilger-Glaubens-Leben besteht): das Hotel ist ganz akzeptabel, die Betten zu weich, das Duschwasser inzwischen wärmer und das Abendessen wird (hoffentlich) den „Bruder Leib“ mit den anhängenden, gequälten und zerschundenen Füßen wieder aufrappeln!? Heute morgen haben wir auch den jungen Franzosen (Denis) und heute abend Luze und die uns schon seit Tagen verfolgenden drei Schweizer getroffen – Je näher wir Santiago kommen, desto dichter wird der Pilgerstrom – vielleicht wird es bis dahin eine richtige Prozession, die unter Glockenklang in Compostela einzieht, empfangen vom Bürgermeister und Erzbischof – in der Kathedrale sind schon alle Kerzen angezündet, das Botafumero schwingt schon und schickt seine Rauchwolken zum Himmel und in die Nasen (und Kleider!) der Pilger, der Chor singt das „Ultreia“ und der hl. Jakobus schließt uns alle in seine Arme und flüstert jedem ins Ohr: Was willst Du denn hier?!?! Noch zwei Erfahrungen vom Weg (die heute besonders deutlich wurden), von denen auch nicht genau feststeht, ob sie zu den Pilger-Freuden oder den Pilger-Versuchungen zu zählen sind: die Flüsse, die zum Baden und Schwimmen einladen, die aber Zeit kosten; und die vielen Bars (wenn es sie gibt!) am Weg, die aber viel Geld und Rülpser kosten! (Dennoch geht die Neigung dahin, beide Erfahrungen mehr zu den Pilger-Freuden zu zählen!)
VILLAFRANCA DEL BIERZO
Portal der Menschlichkeit für alle, die nicht im Zenit der Sonne leben Barmherzig schenkt es ihnen dieselben Gnaden wie der Pórtico de la Gloria Die letzten Strahlen der Abendsonne vergolden die uralten Geschichten der Weisen Ein Engel flüstert von Trost und Hilfe und Weitergehen Das vorläufige Ziel ist das Kreuz Die Morgensonne kann es hier nicht erreichen Über die Schwelle des Tores ist lange Gras gewachsen
23/9/83 CEBRERO 21.15 Uhr
Sitzen hier in der Pilgerherberge-Pilgerrestaurant des alt-ehrwürdigen Ortes und warten auf das Abendessen – Gestern abend noch gut essen gegangen: Artischocken, Kotelett, Salat, „Pyjama“ des Hauses (Früchte, Eis…: sehr lecker), dazu Bier, Wein, Kaffee; heute morgen um 8 Uhr aufgestanden; Kaffee trinken; einkaufen; Innenbesichtigung der Jakobus-Kirche: an beiden Flügeln der Holztüre von innen Jakobsdarstellungen: auf der einen Seite Jakobus als Pilger, auf der anderen als Matamoros; vorn rechts ein barocker (?), aber einfach gehaltener Pilger-Jakobus: sehr lebensnah mit eingesetzten Glas-Augen; der ganze Raum macht einen hoheitsvollen, erhebenden, majestätischen Eindruck (bis auf die südlich angebaute, barocke, in gold-schwelgende Kapelle); dann versucht, einen Stempel zu bekommen: an verschiedenen Stellen war keiner; im letzten Kolleg des Ortes dann doch noch Erfolg: durch einen Dreh-Mechanismus (ohne persönliche Kommunikation) mußte unser „Dokument“ eingereicht werden: knarrend drehte sich das Ding; dann dauerte es 10 Minuten und wieder Knarren: unser „Dokument“ lag gesiegelt da – und dabei zwei zerknitterte, aber sicherlich liebevoll gemeinte 100-Peseten-Scheine für die armen Pilger; beide Scheine haben wir direkt wieder in den Opferstock des Konventes geworfen; dann langsam und bedächtig weiter: von Pause zu Pause, immer den Rio Valcarce längs, mal die Füße rein, dann wieder eine Cola – plötzlich kamen ein paar Tropfen vom Himmel – ein erhobener Zeigefinger, um endlich mal voran zu machen; dann ging es bergauf von 600 m auf 1300 m: in eine herrliche Landschaft: mit blau-grau-grünen Bergketten, bewachsen mit strahlend gelbem Ginster und blau-violettem Heidekraut, dazwischen weiß-silbriges Gras und grüner Farn – eine Landschaft, die immer schöner wurde, je höher wir gingen; zwischendurch ein paar eiskalte Quellen, einige Regentropfen dazwischen, ein Wind – und die untergehende Sonne, die wir aber durch unseren Aufstieg immer wieder einholten; dann endlich die stroh-bedeckten Häuser von Cebrero, dahinter die gold-rot untergehende Sonne; am alten Pilgerkreuz vorbei Einzug in das Dorf; direkt in die Kirche: mit einem tollen Kruzifix, einer alten romanischen Madonna und dem alten Gralskelch unter Glas: eine irre, mystisch-gespenstische Atmosphäre; wie um Jahrhunderte fühlte ich mich zurückversetzt. – In der Pilgerherberge können wir schlafen im Vorraum zum Restaurant; erst mal in die Messe nebenan gegangen: in wenigen Minuten zu Ende (war wohl mehr galicisch: Wir haben nämlich kurz vor Cebrero die Grenze von der Provinz Leon oder auch von Kastilien nach Galicien überschritten); nochmals die herrlichen Figuren in der Kirche bewundert und die sakrale Atmosphäre genossen; dann Abendessen: Suppe, gekochte Kartoffel (!), Kotelett, Eistorte, Bier, Wein, Kaffee – ein herrlicher Tag heute. Unvergeßlich die Landschaft. – Noch eine bemerkenswerte Äußerung von Gerhard: Wir haben immer wieder Durst; und wir trinken und trinken; und trotzdem wird der Durst nicht gelöscht – da kann man verstehen (vor allem im Orient), wenn Menschen wie „elektrisiert“ sind, wenn ihnen jemand sagt, daß er der Quell ist, nach dem keiner mehr Durst hat. – Jetzt liegt mir ein Kalb-Bernhardiner-Hirtenhund zu Füßen und ich muß mich dennoch wohlfühlen! – Hund ist wieder weg! Gott sei Dank! – Ich werde nie ein Franziskus!
CEBREIRO
Hoch oben über den Menschen taucht aus dem Grün des Gebirges dieses Relikt aus uralten Zeiten auf Gebrochene grau-braune Steine, bläulicher Granit, dunkelbraune Eichenbalken leicht geschwungene Strohdächer Die erste Ansiedlung auf galicischem Boden, dem Grabesboden des Apostels Sie weist zurück in die Jahre, da der Stern auf dem Feld die Wallfahrt ins Leben rief Nahe bei Gott hat sie die Jahrhunderte überlebt Aus dem bewölkten Himmel sind leise die Worte zu erspüren: Dies ist mein geliebter Ort Zahlreiche rote Kerzen im dämmrigen Heiligtum flackern zaghaft von den Überlebens-Hoffnungen der Glaubenden Die glutrote Abendsonne, der goldene Gralskelch und der weiße Lichtschein des Herrn verschmelzen am Horizont Beim Abstieg verbot er ihnen, anderen davon zu erzählen Die wirklichen Tiefenerfahrungen sind mit menschlichen Worten nicht zu vermitteln
24/9/83 ALTO DEL POYO 13 Uhr
(Paß; ca. 9 km hinter Cebrero; 1337 m) Immer noch die herrliche Landschaft; jetzt rechts und links; und wieder eine Bar – Nach dem guten Abendessen gestern abend auf die Liegematte; gut in den Geburtstag hinein geschlafen; heute morgen Gratulationscour: mit kleinem Jakob, der mit glänzenden Augen in die Welt schaut; Frühstück: leckerer Kaffee, Käse, Schinken, Wein, Bier, Mineralwasser: richtig geburtstags-like: Mit Gerhard zusammen sind es heute 70 Jahre; mit der Hälfte komme ich noch gut weg! – Der Pilgerweg ist auch ein Gleichnis für den Lebensweg: Anfang – Gegenwart – Ziel; Anfang: kein Anfang am Punkt Null; hineingestellt in eine Geschichte; mit Menschen, die auf den Weg schicken und begleiten, die diesen Weg vorbereiten und planen, die die richtigen Routen festlegen: Danke für die, die diesen Anfang geschenkt haben! – Gegenwart (hoffentlich noch nicht so nahe am Ziel wie wir jetzt unserem Wege-Ziel nahe sind): Menschen begleiten; Erlebnisse, Erfahrungen, tolle Eindrücke; Wege, die nicht gegangen worden sind; Entscheidungen, die gefallen sind und die die Richtung bestimmt haben; Wege, die vor einem liegen (auch manchmal mit kleinen, aber netten Umwegen!): Danke für die, die diese Gegenwart begleiten! – Ziel: Was kommt? Was liegt vor mir? Ehrlich gesagt, die Hoffnungen und Wünsche und Freuden sind nicht so groß wie auf unserem Weg; auch ein wenig Sorge, Angst, Befürchtungen begleiten den Weg; aber auch vertrauen, den Weg gut zu Ende gehen zu können: Danke für die, die mir das Ziel vor Augen stellen und die mich zum Ziel hin begleiten! – Vor unserem Abmarsch in Cebrero nochmals Besichtigung der Kirche: toller Raum, eine majestätische romanische Madonna, der „Grals“-Kelch sehr viel kleiner als ich dachte, aber Anklänge an Vergangenes, Mystisches, Geheimnisvolles, Sakrales, Unzugängliches – ein konkretes Zeugnis vom Schnittpunkt des Realen mit dem Irrealen; Besichtigung des Pilgerkreuzes mit einem kleinen Jakobus am Schaft! – Meinen Geburtstagsfrühschoppen habe ich jetzt hinter mir: Cola mit Cognac; jetzt geht es weiter! (Handschriftlicher Eintrag ins Tagebuch: „Samos 24.9. 22.30 Euch beiden wünsche ich, daß jeder von Euch mindestens genauso alt wird, wie Ihr heute zusammen werdet! Bleib‘ so! Deine Marianne“)
25/9/83 SAMOS 10 Uhr
Sitzen schon wieder in der Bar vor dem Kloster und nehmen den zweiten Kaffee zu uns; haben gerade eine Messe im Oratorium des Klosters gefeiert mit dem Thema „Jakobsweg – Lebensweg“ (s. gestern). War sehr schön hier in Samos: Gestern abend mit Einbruch der Dunkelheit (nachdem wir unterwegs viel gebummelt und die Kilometerzahl unterschätzt hatten; von Triacastela aus – mit schöner Jakobskirche, an deren Fassade drei Reliefs von Kastellen waren – waren es noch 11 Kilometer! Ganz schön anstrengend und frustrierend!) hier angekommen: Der Gastpater stand schon vor der Tür, wir waren schon von den Schweizern und Luze angekündigt: 6-Bett-Zimmer, leider nur kalte Dusche, aber dann gegenüber in die Bar (wo wir jetzt schon wieder sitzen): dort hervorragend zu Abend gegessen: Brot und holzfeuer-gegrilltes Fleisch, Bier und Wein, Kaffee und Cognac: Alles für alle für 2300 Peseten: Ein klasse Geburtstagsessen! Ein würdevoller Abschluß; dann in die Kiste; durch Umstellen der Uhr eine Stunde geschenkt bekommen: 8 Uhr aufgestanden; in die Bar zum ersten Frühstück, dann Gottesdienst… Noch eine Pilger-Versuchung, die mir gestern in der Bar von Triacastela wieder besonders auffiel (die uns aber schon den ganzen Weg begleitet): das überall präsente und überall tönende und flimmernde Fernsehen in den Bars: ständig schimpfen wir drauf, ständig lähmt es die Kommunikation, ständig geht es auf den Geist – aber ständig schielt auch einer hin, verstohlen mit einem Auge, einen Fetzen „Kultur“ erhaschend. –
25/9/83 SARRIA 13 Uhr
(in einer Bar am Ortseingangsschild) In einem Durch-Gang von Samos nach Sarria (über 12 Kilometer!) – auf einer solchen Strecke (allein, die Füße Schritt vor Schritt setzend, nur ab und zu den Kilometerstein wahrnehmend) kann man zur Ruhe, zur Stille, zur Besinnung kommen: Sonst ist abends und morgens das Pilgerleben ziemlich hektisch; abends: ankommen, eine Herberge suchen, Bett richten, Socken aus, frisch machen (wenn vorhanden: duschen), Füße richten (übrigens: meine Füße sind in den letzten Tagen besser, seit ich nichts mehr damit mache: keine Creme, keinen Hirsch-Talg, nur noch Puder: alles trocken behandeln; trocken, spröde, gerissen – wie eine Mondlandschaft – sehen meine Füße drunter aus!), Abendgarderobe, Lokal suchen, essen (möglichst schnell ein paar Biere gegen den Durst runter), in die Herberge, ins Bett, schlafen; morgens: aufstehen (möglichst spät: siehe Pilger-Versuchungen), waschen, anziehen, Schuhe eincremen, Rucksack packen, Kaffee-trinken, Postkarte schreiben (der tägliche Zwang, der schon zur Manie wird), Briefkasten finden, Stempel suchen (falls nicht schon abends geschehen), Handtuch zum Trocknen an den Rucksack, weiter!! – Unterwegs fiel mir heute auf, daß die Bäume und Wälder schon einen herbstlichen Schimmer erhalten (schon!?: schließlich hatten wir vorgestern Herbstanfang; und so bunt, wie bei uns vor der Tour, sieht es hier noch lange nicht aus!); außerdem fallen die ersten Blätter: „Die Blätter fallen, fallen wie von weit – Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen unendlich sanft in seinen Händen hält!“ – Herbst! Auch auf unserer Tour sind wir jetzt in die Herbst-Zeit gekommen: Bald läßt sich die reife Frucht Santiago pflücken und dem hl. Jakobus vertrauensvoll in die Hände legen – nur noch wenige Tage, nur noch „wenige“ Kilometer (von hier aus noch 106!) – Übrigens muß mal etwas erwähnt werden, was schon fast zur Selbstverständlichkeit geworden ist: das schöne Wetter! Schon wieder ist es heute schön, sonnig, nicht zu kalt, nicht zu warm, windig (und das alles, obwohl unsere Spanisch-Lehrerin Escobar immer davon gesprochen hat, daß es in Galicien im September pausenlos regnen würde): Also: Bei allem Jakobs-Kult und bei aller Jakobus-Verehrung muß auch mal ein kräftiges „Danke!“ an den Apostel-Kollegen Petrus gesagt werden, der bisher die Wasserkübel hinter Bart und Schlüssel versteckt gehalten hat (mit Ausnahmen von zwei mal zwei Stunden in den Pyrenäen und hinter Hontanas und von einigen erfrischenden Tropfen im Bierzo-Gebirge); hoffentlich bleibt es so! Spanien braucht erst Anfang Oktober wieder Regen!
26/9/83 PUERTOMARIN (oder galicisch: PORTOMARIN) 8 Uhr
Liege im Bett im Parador-Hotel nach einer guten Nacht und denke über den gestrigen Tag nach: War ganz schön anstrengend gestern und vorgestern jeweils sechs Kilometer mehr als vorgesehen (der Umweg über Samos!; so daß gestern im Endeffekt ca. 40 Kilometer zu laufen waren!); außerdem macht sich bemerkbar, daß uns der wöchentliche Ruhetag fehlt; bei einer Planung der Tour sollte man darauf unbedingt achten: Sechs Tage laufen und einen Tag Pause! Um 15 Uhr trennten sich Helge, Andrea, Ingrid und ich von Marianne und Gerhard, um noch die besonders empfohlene Kirche in Barbadelo zu besichtigen: Also runter von der Landstraße, rein ins Gelände (um 16 Uhr wollten wir uns in einer Bar in Peruscallo wiedertreffen!); die Kirche ganz nett, aber so überwältigend und schön, wie angegeben, nun auch wieder nicht: Interessantes West-Portal mit sehr alten Darstellungen: im Tympanon ein Auferstandener oder Weltenrichter; darunter ein teufelsähnliches Gebilde, eingefangen und verstrickt in Ranken und Schlingen; an den Kapitellen der Gewände mythologische Themen: je zwei gleiche Tiere (Hahn,…), die gegeneinander stehen und dahinter Menschen; beim Weitergehen den Weg zunächst nicht gefunden; verlaufen; Stimmung sank; dann Versuch, die verabredete Bar zu finden: ging lange und beschwerlich über den alten Camino: um 17.45 Uhr waren wir da: die beiden anderen weg; dann zur Landstraße durchgeschlagen; ich fiel von einer Steinmauer; ein Sumpf mußte durchquert werden; überall Brombeerranken; um 18.30 Uhr waren wir auf der Landstraße – und hatten noch 15 Kilometer vor uns; mit der Aussicht, ab 19.30 Uhr im Dunkeln laufen zu müssen (Umstellung der Sommerzeit auf Normalzeit); einen flotten Schritt vorgelegt: Sieben Kilometer ging es noch im Hellen; dann Pause in einer Bar; von da ab im Dunkeln, mit Taschenlampen, den wunderschönen Sternenhimmel über uns, auch die Milchstraße gesehen – und damit zum ersten Mal das Erlebnis der Pilger, nachts in Richtung der Milchstraße auf Santiago zuzulaufen; um 22 Uhr waren wir in Puertomarin; das Parador angelaufen; dort waren die beiden; Gutes Abendessen (galicische Suppe, Jakobsmuscheln – die Muschelschalen durfte ich behalten -, Torte des Hauses, dazu Bier in Strömen: die Kehle ist immer wie ausgedörrt); noch etwas gewaschen (das muß man sich vorstellen: ich um Mitternacht vor dem Waschbecken und wasche Unterhosen und Unterhemden: Wenn meine Mutter wüßte, was ich alles kann, wäre ich den ganzen Tag am arbeiten); dann ins Bett zur wohlverdienten Ruhe – Übrigens haben wir gestern die 100-Kilometer-Marke nach Santiago unterschritten; von hier sind es jetzt noch 86,5 Kilometer! – Heute morgen ist es ganz schön neblig draußen; hoffentlich waren meine Lobes-Hymnen auf Petrus nicht verfrüht!; Egal, es geht weiter!
26/9/83 PALAS DE REY 20.15 Uhr
Liege hier auf der Matte im Fonda Lola Gonzales mit einem Bier und warte auf Dusche und Essen! Welch ein Gegensatz zwischen gestern und heute! Aber jeden Tag Parador ist als Pilger auch nicht zu verkraften – Also der Reihe nach: Der Frühnebel hat sich ganz schnell aufgelöst und dann wurde es ganz schön heiß heute (wie uns schon mehrere Leute gesagt haben, ist das Wetter dieses Jahr extrem ungewöhnlich und gut im September; na ja, wenn Engel pilgern…) – Einige Tages-Impressionen: Kaffee im Parador – Geld umwechseln – Kaffee in einer Bar an der Kirche in Puertomarin – faszinierende Musik-Band am West-Portal der Kirche von Meister Mateo – erschrocken, scheue Madonna bei der Verkündigung am Nordportal – grandiose Hallenkirche mit Gurtbögen – mystisch, ergreifendes Kreuz in der Apsis – Einkaufen – Landstraße – Rast in einem kleinen Wäldchen mit Quelle – alter Camino – knatsch-grüne, große Frösche in einem Tümpel – Rast an einer Bar (Schwierigkeiten wegen 80 Peseten: fast ein abendfüllendes Programm) – alter Camino – Ginster, Brombeeren, Farn – sanfte, weitgeschwungene Hügellandschaft – sehr grün – kleine Kleckersdörfer mit Heu- und Mist-Haufen – galicische Häuschen (für Mais? Tabak? Tauben? Tote?): sehr charakteristisch und originell – Ochsengespann mit galicischem Wagen mit Holz-Scheibenrädern – kleine Kirche mit der Hausnummer 1 (da weiß man noch, wo die erste Adresse am Ort ist) – Jakobskirche – alte Friedhöfe mit Pilgergräbern – ein Stück Landstraße – Sonnenuntergang – die ersten Häuser von Palas de Rey – Kirche – fragen – Fonda – Erstes Bier – Einquartierung – Hoffen auf eine Tortilla espanol… Hoffnung erfüllt: Erste verspiesen; hoffen auf eine neue! Sehr lecker!…(mit Tomaten, Bier, Wein…)
27/9/83 CAMPANILLA 11.15 Uhr
Auf dem herrlichen, alten Camino durch wunderschönes galicisches Land: im Schatten von verkrüppelten Eichen, von schmächtigen Buchen, buschigen Kiefern und grazilen Birken gingen wir – manchmal wie auf dem Weg zu einem verwunschenen Schloß, vor allem, wenn die Sonnenstrahlen pfeilartig durchbrachen; auf Gras mit Tau, vorbei an Brombeeren, Ginstern, Farnen, versponnen mit Spinnweben im Morgentau und beperlten Spinnennetzen mit dicken Spinnen – durch kleine, dreckige, urige Dörfer – mit Mais-Behältern, Kirchen, Ochsengespannen, Bäuerinnen und Bauern, die neugierig, aber freundlich am Weg stehen und bereitwillig Auskunft geben (von dem man nichts versteht) – ein tolles, fruchtbares, liebenswertes Land – dieses Galicien! – Heute morgen um 7.30 Uhr aufgestanden, 8.15 Uhr Frühstück, Einkaufen, Stempel besorgen (auf dem Bürgermeisteramt), Wasser geschöpft am Brunnen (mit abgeschlaffter Jakobs-Figur) – und weiter! (Wir sitzen hier fast genau auf der Grenze von der Provinz Lugo zur Provinz La Coruna, die letzte, die wir erreichen)
GALICIEN
Zaghaft gelber Ginster, dunkel-violettes Heidekraut, hoch-fächriger Farn, himmelblaue Hortensien Fahl-grüne Kiefern, efeuumrankte Steineichen, Eßkastanien als kleine Stachelbällchen, überragt von grau-silbrigen Eukalyptusbäumen Strohhaufen mit geflochtenen Zöpfen, kunstvoll gestaltete Mais-Speicher, kapellenähnliche Backhäuser, Weinlauben vor den grün- gestrichenen Türen der Häuser aus Bruchstein Schrill-pfeifende Vögel, stolz-krähende Hähne, ängstlich-quiekende Schweine, heiser- bellende Hunde Dampfende Kohlsuppe, knoblauchgetränkte Krabben, gesalzene Schweineschulter, milchig-weißer Brustwarzenkäse Sattgrüne Hügel, fruchtbare Täler, bedeckter Himmel, sich kräuselndes Meer In diesem Land fand der Apostel als Verkünder der Frohen Botschaft bei den verschlossenen Menschen wenig Beachtung Durch dieses Land geleiteten seine Freunde Athanasius und Theodorus den Leichnam ihres Herrn über holprige Wege – gezogen wurde der Holzkarren mit Scheibenrädern von gezähmten Stieren Aus diesem Land erstand der Apostel unter einem funkelnden Stern zu neuem Leben Zu diesem Land führen die Wege der Länder und vereinen sich am geöffneten Grab im Zeichen der Muschel
27/9/83 MELLID 13.30 Uhr
Sitzen in einer Kaffee-Bar zur Mittagspause; durch ein uriges, altes Dorf gekommen: Lebureiro mit einer alten romanischen Kirche; sehr schön gestaltetes Portal: ein wenig rustikal und herb, aber sehr aussagekräftig: eine thronende Madonna mit dem Kind auf dem Schoß, rechts und links anbetende Engel; auf dem Friedhof hatte gerade eine Beerdigung stattgefunden; die Nische mit dem Sarg wurde gerade vermauert; viele Leute waren dabei, machten einen ernsten, aber gar nicht so traurigen Eindruck – mehr so, als ob der Tod zum Leben dazu gehört. – Auf unserem Weg werden wir übrigens oft mit dem Tod konfrontiert: Es fing in Frankreich in Pons an: die alten Steinsärge für die verstorbenen Pilger; dann die vielen Friedhöfe als Mahnmale des Vergänglichen (oft für uns als Wegzeichen und Orientierungspunkte; schön auch der Spruch am Eingangsportal des Friedhofs von Los Arcos: „Ich war, was du jetzt bist; du wirst sein, was ich jetzt bin“); dann die Friedhöfe hier mit den typisch galicischen Friedhofskirchen: eine Giebel-Fassade, ein oder zwei Mal durchbrochen für die Glocke, einige Spitzen oder Türmchen zur Verzierung; dann die alten Pilger-Gräber, über die heute achtlos und pietätlos jeder rumläuft – Leben und Tod gehören hier viel selbstverständlicher zusammen; werden nicht so künstlich getrennt wie in unserer Über-Zivilisation…- Hinter Lebureiro wieder eine schöne alte Brücke, ebenso wie in Furelos – Brücken gehören inzwischen zum Pilger-Standartprogramm: sicherlich wird insgesamt schon ein ganzer Brücken-Film belichtet sein – Jetzt kommt das Kotelett und der gemischte Salat – Guten Appetit!
27/9/83 Kilometerstein 573 (ca. 3 Kilometer vor ARZUA) 18.45 Uhr
Von den vielen Bäumen in Galicien müssen noch zwei besonders erwähnt werden: die tief-dunkel-grünen Eßkastanien-Bäume mit ihren gezackten lanzett-förmigen Blättern und ihren hell-grün schimmernden Früchten – und die grau-braun-silbern schimmernden Eukalyptus-Bäume mit ihren sichelförmigen Blättern (die unzählig vertrocknet am Boden liegen) und ihren lang gezogenen glatten Stämmen; dazu der unverwechselbare Duft, den diese Wälder verbreiten; besonders toll die kleinen, jungen Sträucher-Bäumchen, die besonders grün-blau-silbern die Landschaft verschönern – ein tolles Land, besonders (wie jetzt) im Schein der untergehenden Sonne – eine Orgie in Grün-Grau-Silbern, ein wenig neblig verschleiert!
27/9/83 ARZUA 20.30 Uhr
Mit Einbruch der Dunkelheit sind wir hier angekommen; in einem netten, kleinen Hotel untergekommen; zusammen mit Denis, der uns fast den ganzen Tag begleitet hat und der sich trotz seiner kaputten Füße bis Santiago schleppt – Es ist jetzt schon ein ganz merkwürdiges Gefühl: Da sind wir über vier Wochen gelaufen, von Zwischenetappe zu Zwischenetappe und nun ist es der letzte Abend vor dem großen Ziel: Morgen abend sind wir in Santiago; alle Mühen, alle Erwartungen, alle Vorfreuden haben dann ein Ende! Es ist fast ein wenig unfaßbar und unglaublich, nun den Vorabend des Zieles erreicht zu haben! Unfaßbar, aber schön!
28/9/83 SAN ANTON 13.30 Uhr
Der himmlische Rundfunk, Regionalprogramm Compostela meldet heute: Hohes Pilgeraufkommen zwischen Arzua und Santiago de Compostela: In einer Prozession von insgesamt 12 Personen laufen wir seit heute morgen 7 Uhr (seit Arzua) bis Santiago, das wir hoffentlich vor Einbruch der Dunkelheit erreichen; es laufen: die drei Schweizer, Denis, Luze, Monsieur George und wir sechs! Manchmal ein wenig mühsam, mit so vielen den richtigen Weg zu finden, die Pausen festzulegen, die Pausenlängen zu bestimmen – unsere Anzahl von sechs Personen scheint wohl doch das oberste Limit zu sein, um den Weg sinnvoll und zügig laufen zu können; meist sind wir heute den alten Camino gelaufen (auch wenn er manchmal ein wenig mühsam zu finden war): wieder auf schattigen Wegen, häufig gesäumt von den hohen, schlanken, rindenlosen Eukalyptus-Bäumen: wie in einem tropischen Urwald oder (nach Monsieur George) wie in einer Kathedrale mit ihren schlanken, himmelstrebenden Pfeilern: Augen und Nasen kommen jedenfalls voll auf ihre Kosten – Gestern abend (nach dem Frisch-Machen) waren wir noch einfach und gut essen: Suppe, Fleisch, Pommes, Käse (sehr lecker!), Bier, Cognac, Kaffee – dann wieder tot-müde ins Bett gefallen, um fit für das Wecken um 6.15 Uhr zu sein – Es ist schon ein komisches Gefühl, den letzten Tag zu laufen: eine Mischung von Trauer und Freude; Trauer, weil nun das mehrwöchige, ständige Unterwegssein mit den vielen Überraschungen und Erlebnissen zu Ende ist; Freude, weil es nun bald (in ca. 15 Kilometern!) geschafft ist: das Ziel erreicht, den Camino geschafft, sich „Pilger“ (im eigentlichen Sinne des Wortes – nach Dante) nennen zu dürfen! Auf! Ultreia! Der heilige Jakobus, den Gott geschickt hat („Dominus me misit“ werden wir gleich auf der Schriftrolle des Heiligen an der Mittelsäule des Portico de la Gloria lesen) wartet auf uns, um uns in die Arme zu schließen (vgl. 22/9!)!
28/9/83 SANTIAGO DE COMPOSTELA 21 Uhr
Sitze im 2-Sterne-Hotel auf dem Bett und habe nur den einen Gedanken: Angekommen! Nach 4 ½ Wochen und ca. 800 Kilometern endlich da! Kamen mit Einbruch der Dunkelheit hier an; direkt in die Kathedrale zum ersten Gebet beim Apostel (leider zu viel Getöse und Unruhe durch eine Kongreß-Teilnehmer-Gruppe); dann (bei Orgelmusik und völlig erleuchtetem Hochchor!) zur Mittelsäule am Eingangsportal: die Hände in die Säule gelegt und den persönlichen Wunsch dem Heiligen ans Herz gelegt; auch eine Kopfnuß beim Meister Mateo geholt: der Glaube muß konkret, greifbar und spürbar sein! Sonst ist er nur ein hohles Gedankengebilde – Mit allen 12 Pilger-Prozessionsteilnehmern zogen wir vorher mit vielen Gesängen (Halleluja; Herr, deine Liebe; Laudate…; Lobet und preiset…; Frère Jacques…; Danket, danket dem Herrn…) auf den Monte del Gozo, den Berg der Freude: das war wirklich ein erhebender und ergreifender Augenblick: in der Ferne (hinter einem häßlichen Neubau) die Türme der Kathedrale sehen zu können (nur erhebt sich für mich die Frage: Was haben eigentlich die Pilger im Mittelalter gesehen, als die Türme noch nicht vollendet waren? Vielleicht ist solch eine rationalistische Frage aber auch angesichts der Größe des Augenblicks völlig deplaziert!). Allerdings schwand das Erhebende und Ergreifende auch wieder mit den lang und endlos und unschön dahinziehenden Straßen hinein in die Stadt – mit ihrem Verkehr, ihrem Dreck, ihrem Lärm: warum muß man sich zum Zentrum der Städte erst immer so durchschlagen und durchkämpfen: erst durch den Morast zur Schönheit!
MONTE DEL GOZO
Kurz vorher wurden die Schritte länger, einige liefen Die Schmerzen an Füßen und Gliedern waren für Augenblicke vergessen Jeder wollte der rei oder rey, der roi oder re, der king oder König seiner Pilgergruppe werden Der Titel des ersten wurde zum Namen für Generationen Auch die letzten weinten vor Freude Am Horizont weisen winzige Hörner zum Himmel Vor der untergehenden Sonne sind sie die ersten erkennbaren Zeichen vom Haus des Apostels Mit vielen Gebeten und Gesängen danken alle Pilger ihrem Herrn Was für Mose unerfüllte Hoffnung blieb, ist für sie nahe Gewißheit: Der Schritt über die Schwelle des Heiligtums Die letzten Meter trägt und zieht sie der Gesandte des Herrn
29/9/83 SANTIAGO DE COMPOSTELA 10 Uhr
Sitze hier in der Rua del Villar, der alt-ehrwürdigen Geschäftsstraße bei Kaffee und Pilgertorte zum Frühstück im Ausgehanzug – Merkwürdiges Gefühl, sitzen zu können, ohne daß es gleich weitergeht; ohne Rucksack und Wanderschuhe; ohne Streß; aber auch ohne Ziel! Angekommen! Einfach nur da sein, da sitzen, sich ausruhen, auf sich wirken lassen, entspannen, es sich gemütlich machen, bummeln, Schaufenster gucken, Kaffee trinken – ohne Streß, ohne Hektik, ohne Weiter! – Gestern abend waren wir erst essen (Artischocken mit Schinken, Hühnchen mit Knoblauch, Bier, Cognac), danach haben wir uns mit den anderen Pilgern um 23 Uhr vor der Kathedrale getroffen: düster und mächtig, aber erhaben und hoheitsvoll lag sie da; dann noch zusammen Kaffee-Schokolade-Bier trinken gegangen, dazu eine Pilgertorte verspiesen: merkwürdig, welche Verbundenheit aufkommen kann zwischen Menschen, die sich vorher nie gekannt haben, dann aber einen gemeinsamen Weg gehen und ein gemeinsames Ziel anstreben! – Heute morgen ist es übrigens etwas grau, trist und kühl hier!
SANTIAGO DE COMPOSTELA
Peregrino, todos los caminos del mundo llegan a Compostela Angekommen! Jeder ist erfüllt von Freude und Trauer Wißt ihr nicht, daß ich dort sein muß, wo mein Freund ist? Du, empfiehl mich bei Gott! Der Apostel lächelt still und nickt
29/9/83 SANTIAGO DE COMPOSTELA 19.30 Uhr
Sitzen zusammen in einer Bar und trinken Kaffee und Cognac – Heute ein richtiger Gammel- und Bummel-Tag: Einkaufen: Camino-Karte, Weihrauch, spanisches Neues Testament, Postkarten, Muscheln, Musik-Kassetten, Bier-Pott (als Pilger), Film…Viel Geld ausgegeben, wieder einiges umgewechselt – Dann essen: Galicische Suppe, Nierchen, Wein – Dann Mittagsschlaf – Dann Besichtigung der Kathedrale: Innen (dabei am Heiligen im Chor vorbeidefiliert, ihm die Hand auf die Schulter geklopft und ihm zugeflüstert: „Bleib so, wie Du bist, alter Kumpel!“), Kreuzgang, Museum – Dann Herradura-Park (wieder mit herrlichem Blick auf die Kathedrale, die von hier viel größer und bombastischer wirkt, als wenn man davor oder drinnen steht; übrigens, wenn man es weiß, entdeckt man doch viel mehr Romanisches in und an der Kathedrale, als auf den ersten Blick zu vermuten ist!) – Dann Bar – Dann (hoffentlich bald!) Abendessen – Dann (gegen 22 Uhr) Treffen mit den anderen Teilnehmern der Pilger-Prozession – Dann wieder Bett! Morgen soll wieder ein Gammel-Tag sein (der ursprüngliche Plan, nach Finisterre zu fahren, wurde fallengelassen: erst muß die Compostelana besorgt werden und außerdem ist Ruhe wichtiger!) – Übrigens: heute hat es auch mal tropfenweise geregnet; es wird galicisch!
PORTICO DE LA GLORIA 1988
Bescheiden kündet der Türsturz vom großen Jubiläum – vor genau achthundert Jahren vollendete Mateo dieses Prachtwerk Der Meister selbst hockt zu Füßen seines Herrlichkeitsportals Er nimmt es nicht selbstgenügsam in den Blick, sondern schaut auf den, zu dessen Ehre er arbeitete Er duldet es, ab und zu einen Funken seines Genies zu verschenken Hoch über ihm richtet in Güte der Allgewaltige die Menschen Engel tragen die Werkzeuge seines Erlösertodes „Solo dios basta“ künden ihre Gesichter Das himmlische Orchester spielt dazu seine eigenartigen näselnden und schrillen Weisen Darunter tänzeln links und rechts die Propheten des Alten und die Apostel des Neuen Bundes Der Ernst des Geschehens weckt die Heiterkeit ihres Inneren An der Mittelsäule thront der Apostel am Stammplatz seines Herrn und dessen Mutter Er aber weiß: Mein Herr hat mich gesandt Dieser Auftrag gilt auch mir persönlich Still lege ich meine fünf Finger in die uralten Löcher
30/9/83 SANTIAGO DE COMPOSTELA 17 Uhr
Sitze in der Kathedrale: den Heiligen im Chor vor mir, den Heiligen am Portico de la Gloria hinter mir; durch diesen Portico fällt schönes Licht, das die Kathedrale im hinteren Teil gut erleuchtet; dadurch werden die romanischen Elemente gut ins Licht gesetzt: eine ruhige und erhabene Größe geht von diesem Granit aus; selbst die barocken Zutaten können da wenig eingreifen und stören kaum; schön, wie sich die Pilaster von unten nach oben durchziehen (abgesetzt durch zwei unscheinbare Konsolen), um dann mit einem Kapitell in die Gurtbögen überzugehen; sehr geschlossen, einheitlich und verbindend wirkt dadurch das Mittelschiff: für eine romanische Kirche sehr hoch und hell! – Heute morgen haben wir uns nach dem Ausschlafen (das Abendprogramm verlief so, wie gestern angedeutet; die Getränke wurden vom Namenstagskind Helge bezahlt) um 9.30 Uhr in der Kathedrale getroffen; an einem Festgottesdienst zu Ehren des hl. Hieronymus teilgenommen; dann zum Sekretär ins Sekretariat im Kreuzgang; und dann die feierliche Handlung: Schlußsiegel auf unser Dokument, Siegel und Unterschrift in unsere Tagebücher und dann Ausstellen der Compostelana, dem Zeugnis über den erfolgreichen Abschluß der Fußwallfahrt nach Compostela; jetzt dürfen wir uns endlich „Pilger“ nennen!; die Compostelana erscheint fast wie ein Weihedokument: ganz in lateinischer Sprache und wieder (wie auf meiner Urkunde zur Priesterweihe) das Kurt in Conradus umgesetzt! Mit einer Fotokopie dieses Dokumentes zum Hotel Reyes Catolicos; dort für 12 Uhr zum Mittagessen bestellt; nach Einkauf der Eisenbahnfahrkarten dann zum Mittagessen gehetzt; und schließlich saßen wir nach vielen Türen, Treppen, Gängen, Aufzügen, durch Garage, Küche und Spülräume im Eß-Zimmer der Hotel-Bedienung bei Kohlsuppe, Fritten, Frikadelle, Brot, Wein und Banane; als Pilger im Hinterstübchen des ersten Hotels am Platz: ein Erlebnis sehr eigenwilliger Art! Nach einem Verdauungstrunk ging es dann zum wohlverdienten Mittagsschlaf – und dann Bummel durch die Stadt und Kathedrale; um 18 Uhr wollen wir uns treffen zum Aperitif und anschließendem Abendessen: wo? Natürlich gibt sich Reyes Catolicos wieder die Ehre, uns zu bewirten! – Indem ich all dies schreibe, blickt mich der Heilige im Hochchor unentwegt an, so als wolle er sagen: Du hast es gut, Du kannst gleich wieder gehen – und ich? Ich muß hier sitzen bleiben, muß mich von dem Gold- und Silber-Barock-Getöse einengen lassen, muß mich von diesem schweren metallenen Umhang endlos bedrücken lassen, muß mich pausenlos anfassen und umarmen lassen, muß mir die zahllosen Wünsche, Anliegen, Beschwerden anhören und mir merken – und muß bei all dem noch Würde und Haltung bewahren, da es aus dem gleißenden Strahl des Punktstrahlers kein Entweichen gibt! (Da hatte ich es in früheren Jahrhunderten schon einfacher, als es solche technischen Festnageler noch nicht gab: da konnte ich mich schon mal ein wenig entspannen, räkeln und bequem hinsetzen) – Na ja: ein Heiliger hat es eben nicht ganz leicht – vielleicht gibt es deshalb so viele, die lieber nur kommen und betrachten und anpacken (und manchmal sogar noch beten!); und vielleicht gibt es deshalb so wenige, die versuchen, die Berufung zur Heiligkeit für sich selbst zu realisieren?!
DAVID
Ganz alleine sitzt er da – nur die durchbrochene Krone kündet von seiner Königswürde Abseits von Macht und Menschenverachtung streicht er seine Fiedel und lauscht versunken seinen Lebensklängen Mißtöne sind darunter – die Namen Batseba und Urija steigen in ihm auf Auch die Geschichte mit Goliat sieht er jetzt in einem anderen Licht Die Wohlklänge seines Lebens haben ihn bekannt gemacht Seine Lieder werden noch heute angestimmt O Gott, mein Herz ist bereit, ich will dir singen und spielen Unter seinen verschränkten Beinen windet sich ein kleiner, gebundener Dämon Die Macht der Musik hält alles Böse und Unheil vom Haus des Apostels fern Von drinnen dringen manchmal durch die dicken Mauern geheimnisvolle Worte Ein neuer König und ein neuer David wird verkündet All das versteht er nicht, aber er hört genau hin Vielleicht ist es auch für ihn wichtig
1/10/83 SANTIAGO DE COMPOSTELA 13.30 Uhr
Die letzten Stunden in Santiago sind angebrochen: um 16.30 Uhr fahren wir von hier mit der Eisenbahn ab; jetzt sitzen wir noch hier (wieder in der Bar in der Rua del Villar) bei Bier und Cherry und genießen die letzten Eindrücke im sonnenbeschienenen Santiago (die Regentropfen am 29/9 blieben ein isoliertes Ereignis; nun haben wir doch Compostela nicht im Regen erlebt, wie Domke es immer anrät; aber es hat uns auch so sehr gefallen) – Heute sind wir nun schon fünf Wochen unterwegs! Wie die Zeit vergeht! Und wie viele Eindrücke, Erlebnisse, Begebenheiten, Begegnungen, Erfahrungen, Gedanken, Gefühle…liegen hinter uns! Es wird Wochen, Monate, Jahre, vielleicht das ganze Leben dauern, um all das zu verarbeiten, zu verdauen und zu realisieren; aber schon jetzt kann ich sagen: das war nicht nur ein Urlaub, sondern eine tiefgreifende Erfahrung! – Gestern abend wieder im Reyes Catolicos: wieder Kichererbsen-Suppe, Fritten und Frikadelle, dazu Wein und Brot; anschließend wieder in die Bar hier in der Rua del Villar zum Kaffee, Cognac, Bier, Cherry und zur Pilgertorte (ein sehr leckeres, nicht zu süßes Gebäck!); heute morgen um 8 Uhr aufgestanden, Kaffee getrunken, 9.30 Uhr Messe in der Kathedrale zu Ehren der kleinen Therese, dann Bummeln und Einkaufen in der Stadt, dann wieder zum Mittagessen in unser Nobel-Hotel (Nudeln mit Fleisch: einfach, gut und reichlich!); und jetzt: Abschiedsstimmung! (die letzten Karten werden geschrieben: an Pablo Payo in Villalcazar de Sirga und an Weihbischof Luthe; gestern haben wir schon den anderen gedankt: dem Pfarrer in Carrion de los Condes, Juan Antonio, Javier Navarro – wir sind doch angekommen! Die sechs „langsamen“ Deutschen – und Prada a Tope)
BOTAFUMEIRO
Der dich, o Jungfrau, in den Himmel aufgenommen hat Die große Sichel des Mondes enthebt die apokalyptische Frau dem Irdischen Dem nächtlichen Lebenszeichen verwandt, schwingt im weiten Halbbogen das silberne Faß durch das Querschiff und berührt fast die uralten Gurtbögen Nach oben gerichtete Blicke, staunendes Murmeln und zuckende Blitze begleiten das verzehrende Feuer und den heiligen Rauch Alle Verwesungsgerüche verwehen Menschenfreundlicher Glaube dringt tief in die Nasen Herr, wie Weihrauch steige mein Beten auf zu Dir!
1/10/83 im Zug von SANTIAGO nach ORENSE 16.45 Uhr
Übrigens Dankbarkeit! Auch diese Eigenschaft kann auf solch einer Tour wieder neu entdeckt und gelernt werden; dankbar sein für die kleinen Dinge und Erfahrungen: Viel war es nicht, was wir von den Menschen bekommen haben, denen wir gestern und heute geschrieben haben; aber es bedeutete uns viel: ein Gespräch, ein Teller Suppe, ein Glas Wein, ein Lachen, ein Zimmer, eine Freundlichkeit; oder dankbar sein für die Kleinigkeiten „am Weg“: für die Natur, die Sonne, das Wasser, den Wind (Was haben wir für ein Glück mit dem Wetter gehabt!); oder dankbar sein für die Menschen „am Weg“, die uns unbekannt blieben: die vielen, die grüßten; die vielen, die den Weg wiesen (wenn auch manchmal mehr mit gutem Willen als mit Kenntnissen); die vielen, die uns in Bars und Restaurants bedienten; oder dankbar sein für die Menschen, die den Weg mitgestaltet haben: angefangen von denen, die die gelben Pfeile längs des Weges gemalt haben zur Orientierung bis hin zu denen, die Kathedralen, Klöster, Kreuze und Herbergen geschaffen haben; oder dankbar sein für die, die den Weg mitgehen: die Gruppe: für manch gutes Gespräch, für manche Hilfeleistung, für manche Rücksichtnahme, für manche Freundlichkeit, für manch frohmachende Worte und Zeichen, für manch aufbauende und tröstende Worte; oder für die, die ein Stück des Weges mitgehen: neue Erfahrungen und Meinungen, neue Impulse und Anregungen, neues Unvermutetes und Merkwürdiges – zufällig, aber bereichernd; und noch ein Dank: dem Apostel Jakobus, der uns geleitet und geführt und sicher ans Ziel gebracht hat (zumindest als mit-motivierende und mit-treibende Kraft)! Danke!
FINISTERRE
Das Ende der Erde – der Anfang des Himmels Der Abschluß des Pilgerweges – der Eintritt in eine neue Welt Die Grenze der eigenen Leistung – das Geschenk der göttlichen Gnade Vor dieser Horizontlinie standen staunend die Jacobsbrüder Vor dieser Horizontlinie stehen lärmend die aufgeklärten Postmodernen Für sie gibt es keine Grenzen, Schranken oder Endpunkte Sie drehen sich lieber ständig im Kreis
WIEDER ZU HAUSE
Worte von Wohlmeinenden – Gedanken aus einem wehmütigen Pilgerherzen… Froh, wieder daheim zu sein? – Ja, aber auch ein wenig traurig… Nun beginnt wieder der graue Alltag – Ja, aber etwas heller… Das Leben geht weiter – Ja, aber leicht verändert… Dank Euch, Mit-Pilgerinnen und Mit-Pilger! Dank Dir, Herru Sanctiagu! Dank sei Gott, dem Herrn! Ja, ich komme bald! Ultreia! |