Heinrich Wipper: Von Le Puy nach Conques

(aus: Die Kalebasse, Nr. 20, 1996, S. 15-29)

 

Von Le Puy nach Conques

Tagebuch einer Pilgerwanderung (6.-17. 7. 1996)

Von Heinrich Wipper

 

Im Mai dieses Jahres fassten wir, das sind Ursula, meine Tochter Lisa und der Verfasser dieser Zeilen, den Entschluss, das erste Stück der „Via Podiensis“ von Le Puy bis Conques zu erwandern, also den Spuren der Jakobspilger im französischen Zentralmassiv zu folgen. Wir nahmen uns vor, die Pilgerwanderung in kleinen Tagesetappen als reine Rucksackwanderung, ohne Begleitauto, durchzuführen und in Wander- oder Pilgerherbergen zu übernachten, wann immer das möglich ist. Zu den Unwägbarkeiten, die in der Natur einer solchen Unternehmung liegen, kam noch die Ungewissheit, wie sich dabei meine 12jährige Tochter, die bislang noch keine Streckenwanderung von dieser Länge unternommen hatte, fühlen würde. Könnte sie etwa schon nach ein paar Wandertagen ihren Entschluss bereuen?

Zum ersten Mal bin ich im Sommer 1979 mit einer kleinen Pilgergruppe von Le Puy nach Conques gewandert. Zu dieser Gruppe gehörte auch Frau Christa Brücker, die in diesem Jahr für immer von uns gegangen ist. Im Anschluss an diese Pilgerwanderung wurde in Düsseldorf die „Sankt-Jakobusbruderschaft“ gegründet.

Für mich war die Frage von Bedeutung, ob die Wege noch so verlaufen, wie ich sie in meinem 1992 erschienenen Wanderbuch beschrieben habe. Um es vorweg zu sagen: Im großen und ganzen blieb der Weg bestehen. Nur zwei Änderungen sind erwähnenswert. (1.) Hinter Le Puy verläuft der Hauptweg zwischen La Roche und Ramourouscle nicht mehr über Augeac, sondern über Saint-Christophe-sur-Dolaison. (2.) Hinter Espeyrac führt der Wanderweg nicht mehr über Taulan, sondern über Sénergues in die Nähe von Garbuech. Dagegen hat sich in der Liste der Hotels und Wanderherbergen mehr verändert. Mitglieder können eine Neufassung, die hier aus Platzgründen nicht veröffentlicht werden kann, gegen Einsendung von DM 2,00 in Briefmarken anfordern.

Im nachfolgenden Bericht habe ich gänzlich auf die Schilderung kunstgeschichtlicher und anderer Sehenswürdigkeiten verzichtet, dagegen großen Wert auf praktische Fragen des Wanderalltags (z.B. der Zustand der Wander- und Pilgerherbergen) gelegt. Unsere Begegnungen mit Bewohnern des Landes und mit den Mitpilgern schienen mir ebenfalls immer ein paar Zeilen wert. Hie und da bin ich auch auf unsere Befindlichkeit eingegangen. Auch Erinnerungen an frühere Aufenthalte flossen gelegentlich ein. Der Bericht stützt sich auf meine Tagebuchaufzeichnungen, die meist so belassen wurden, wie ich sie während der Wanderung niedergeschrieben habe. Bei einer stilisti[15]schen oder zensierenden Nachbearbeitung hätte die Gefahr bestanden, den Eindruck des frisch Erlebten zu verwischen.

Ankunft in Le Puy

Nach einer Fahrt von ca. 1000 km kommen wir am frühen Abend in Le Puy an. Die Kathedrale, die Michaelskapelle auf der steilen Felsnadel und die monumentale Marienstatue auf dem Rocher Corneille leuchten in der Abendsonne. 1975 kam ich zum ersten Mal in diese Stadt, Ausgangspunkt einer der vier traditionellen Jakobswege in Frankreich. Um diese Zeit wurde die „Via podiensis“, also der Jakobsweg von Le Puy aus, als Wanderweg wiederhergestellt.

Die Kathedrale wird gerade einer gründlichen Restaurierung unterzogen. Zu diesem Zweck wurde die gesamte Ausstattung aus dem Innern entfernt. Im Gegensatz zu früheren Jahren treffe ich in der Kirche niemanden an, keinen Besucher noch einen der Geistlichen, die hier den Gottesdienst besorgen.

Dagegen ist die Pilgerherberge Maison Saint-Francois, einige Schritte hinter der Kathedrale gelegen, voller Leben. Bei diesem Haus handelt es sich um ein altes Gebäude, das in mehreren Stockwerken in den Hang des Rocher Corneille gebaut wurde. Das ganze Jahr über werden hier schwer vermittelbare junge Frauen in Hauswirtschaft unterrichtet. In den Sommermonaten bewohnen ein paar ehrenamtliche Helfer das Haus, um bei der Betreuung der Pilger mit anzupacken. Die Gäste können in Einzel-, Doppel- und Dreibettzimmer übernachten. Nach rechtzeitiger Anmeldung besteht auch die Möglichkeit, am Mittag- und Abendessen (um 12.00 bzw. 19.00 Uhr) der Hausgemeinschaft teilzunehmen. Dagegen macht sich jeder Gast selbst sein Frühstück in der Gästeküche. Brot, Brotaufstrich, Kaffeepulver und Teebeutel stehen zur Verfügung. Bei alledem sind die Preise moderat. Anfangs haben wir Schwierigkeiten, uns in diesem verwinkelten Haus zurechtzufinden, bis wir auf die Idee kommen, uns am Treppenturm zu orientieren, von dem Türen zum Eingang, Esszimmer, zur Gästeküche, zu den Duschen und Schlafzimmern führen. Lisa kann vom Fenster ihres Zimmers hinauf zur großen Statue „Notre Dame de la France“ sehen. Auf den anderen Seite des Gebäudes blicken wir fasziniert auf die Ziegeldächer von Le Puy. Nach der Abendmahlzeit setzen wir uns in den arkadengesäumten Innenhof des Hauses, wo Ursula und ich mit ein paar Mitpilgern unser letztes, noch vom Rheinland mitgebrachtes Bier trinken.

6. 7. 1996 Samstag: Le Puy – Montbonnet

Zum Frühstück bereite ich mir filtrierten Kaffee, den einzigen Luxus, den ich mir während der Pilgerwanderung gönnen möchte. Obwohl es in der Nacht geregnet hat, setzen wir uns an einen Steintisch im Kreuzgarten des ehemaligen Klosters. Danach versuchen wir, in die Messe zu gehen, aber niemand kann uns sagen, wann und wo, [16] auch nicht die Verantwortlichen der Maison Saint-Francois. So ziehen wir ohne den gewünschten Pilgersegen los.

Auf der Place du Plot findet gerade ein Markt statt. Während Ursula und Lisa die Stände betrachten, fotografiere ich die hölzerne Jakobusstatue am Beginn der Rue Saint-Jacques. Daneben preist ein (obdachloser ?) Mann die Zeitschrift „Sans logis“ an, in der über die Probleme der Obdachlosen berichtet wird. Auf der Rue de Compostelle steigen wir von Le Puy auf die Vulkanhochfläche des Velay hinauf. Während des Aufstiegs sehen wir eine Frau aus Brauweiler, die an diesem Tag ebenfalls ihre Wanderung auf der „Via podiensis“ beginnt, und werden von einer Wandergruppe aus Paderborn überholt. Von La Roche, dem ersten Dorf auf unserem Weg, sind Ursula und Lisa begeistert und machen eine Reihe von Fotos. Lisa hört erst auf zu fotografieren, als ich ihr sage, dass wir auf unserer Wanderung durch mindestens 30 solche Dörfer kommen werden. In Saint-Christophe, wo wir neben der Kirche eine Rast in der Bar „Le Saint-Christophe“ einlegen, begegnet uns der erste französische Pilger. Wir werden ihn abends in der Wanderherberge von Montbonnet wiedersehen.

In Ramourouscle sehen wir uns kurz das baufällige  „Versammlungshauses“ (fr. assemblée) an. Ich frage mich, warum eine solche Gemeinschaftseinrichtung, die früher im Leben des Dorfes eine so große Rolle spielte, nicht erhalten wird. Wie gut könnte man daraus eine kleine Wanderherberge gestalten und somit den sozialen Zweck des Gebäudes wieder aufleben lassen. Die Rochuskapelle vor Montbonnet, im vollen Schein der Sonne gelegen, bietet sich unseren Kameras als Objekt geradezu an. Uns gelingen einige schöne Fotos.

Am Nachmittag kommen wir in Montbonnet an. Da wir kein Brot dabei haben, kehren wir in der Bar „Le Saint-Jacques“ ein. Wir verzehren Guiche Lorraine (Durchmesser 12 cm), Pizza (15 cm) und Croque Monsieur und werden davon überhaupt nicht satt. Am Eingangstor der Wanderherberge sehen wir zwei Frauen, die wir an den folgenden Tagen noch öfters treffen werden. Obwohl noch alle Plätze in der Wanderherberge frei sind, schlagen sie im Vorplatz ihr Zelt auf. Sie stammen aus dem Norden Frankreichs und haben ihre Wallfahrt mit dem Rad in Aachen begonnen. Nur das Stück von Le Puy bis Conques machen sie zu Fuß. Gottseidank können wir beim Betreuer der Wanderherberge ein großes Stangenbrot, eine sog. „flute“ und guten Wein kaufen. Er züchtet im Garten neben der Wanderherberge Weinbergschnecken (escargots bourguignons). Am Abend sehen wir den französischen Pilger wieder, den wir in Saint-Christophe getroffen haben. Er unterrichtet an der Universität von Saint-Etienne Pharmareferenten. Er ist sehr überrascht, als ich ihm berichte, dass ich in dieser Stadt im französischen Zentralmassiv ein Jahr gelebt habe. Er erzählt von seiner Tochter Anne-Sophie, die ungefähr so alt wie Lisa ist. Am Kaminfeuer singen wir zusammen französische Volkslieder. [17]

7. 7. 1996 Sonntag: Montbonnet – Monistrol d’Allier

Zum Frühstück gibt es nur Kirschen. Wir starten bei Regen, der den ganzen Tag über anhält. Es sollte aber der einzige Regentag während unserer 12tägigen Wanderung bis Conques bleiben. Das Zelt der beiden französischen Frauen ist schon völlig durchnässt. Wegen dichten Nebels finden wir kaum den Weg durch das Hochmoor des „Lac de l’Oeuf“. Am Südhang des Vulkanzuges, vor  und hinter Le Chier, vermisse ich die Blumenpracht, die mir aus früheren Pilgerwanderungen in Erinnerung blieb. Als wir gegen Mittag Saint-Privat-d’Allier erreichen, sieht Lisa an einer Metzgerei Hähnchen am Grill. Wir kaufen eines und verspeisen es im überdachten Treppenaufgang der heute geschlossenen Post. So gestärkt verlassen wir den Ort und steigen zur Burgruine von Rochegude hinauf. Laut bellende Hunde bewachen das Haus, in dem man den Schlüssel zur Jakobuskapelle bekommt. Hier beginnt der befürchtete Abstieg ins Tal des Allier. Wegen des starken Regens kommen wir auf rutschigem Boden und Fels nur langsam voran. Büsche laden die Last des Wassers auf uns ab. Leider erweist sich mein Regenumhang nicht als wasserdicht. Vor Pratclaux verlassen wir den markierten Wanderweg und nehmen eine Straße, um zum heutigen Tagesziel unten im Tal des Allier zu gelangen.

Die Wanderherberge von Monistrol d’Allier befindet sich im letzten, hellen Haus an der D 589 in Richtung Le Puy. Eine Frau, die, so oft wie wir sie sehen, ein einjähriges, ziemlich apathisch wirkendes Kind auf dem Arm trägt, weist uns ein Vier-Bett-Zimmer zu. Die Herberge ist primitiv ausgestattet. In der Küche gibt es nur einen Topf zum Wasser kochen. Wegen des Regens ist die Herberge fast ganz belegt. Immerhin können wir in unserem Zimmer die durchnässten Kleider und Schuhe auf der Heizung trocknen. Im strömenden Regen gehe ich zurück in den Ort, um an diesem Sonntagnachmittag nach Lebensmitteln und Getränken Ausschau zu halten. Zum Glück ist die Bäckerei am anderen Ufer des Allier noch geöffnet und hat noch Brot sowie Käse und Getränke.

8. 7. 1996 Montag: Monistrol – Saugues

Am Morgen sieht es so aus, als wolle es weiter regnen. Mit Sorge sehen wir deshalb dem steilen Anstieg vom Alliertal auf das Plateau des Margeride-Berglandes entgegen. Aber dann klärt sich während des Aufstiegs der Himmel auf, und die Sonne vertreibt sehr schnell die letzten Nebelschwaden in Berg und Tal. Gut gelaunt kommen wir zur Magdalenen-Kapelle unter einem Fels. In Escluzels erzählt mir eine Frau, dass es hier kaum noch dauerhafte Einwohner gibt. Immerhin habe hier ein englischer Maler ein Haus gekauft. Aber auch er komme nur im Sommer hierher. Aus dem Dorfbrunnen sprudelt klares Wasser, das nach Aussage dieser Frau sehr wohlschmeckend ist. Oben in Montaure angekommen, kann ich die von Helmut Domke so herrlich beschriebene [18] Allier-Schlucht von hier aus nicht sehen. Aber ich weiß, es gibt sie, wie der begnadete Landschaftsdichter sie geschildert hat. Heute bläst trotz Sonnenscheins ein kalter Wind über die Margeride. An einem gottverlassenen Bauernhof, wo gerade Schafe und Ziegen ausgetrieben werden, schließt sich uns ein (herrenloser ?) Hund an. Schon bin ich nach mehreren Kilometern wegen der ungewünschten Begleitung in Sorge, als ihn andere Hunde von uns trennen.

In Rozier wird mir klar, daß wir die Vulkanlandschaft des Velay verlassen haben und wir uns jetzt im Granit-Massiv der Margeride befinden: Aus diesem Gestein sind hier Häuser, Mauern und der Dorfbrunnen erbaut. In Vernet begrüßt uns eine kinderreiche Familie, die hier gerade ihre Ferien im Haus der Eltern verbringt. Sie zeigen uns das Hausinnere mit Kamin und ehemaligen Backofen. Das daneben stehende „Versammlungshaus“ („assemblée“) wird heute als ländliche Ferienwohnung (Gite de France) genutzt. Als wir vorbeikommen, ist es nicht belegt, und ich frage mich, wer wird wohl in dieser einsamen Gegend seinen Urlaub verbringen wollen. Ein weiteres Versammlungshaus ist gleich im nächsten Dorf, in Rognac, zu finden. Nach dem französischen Wanderführer von Laborde-Balen soll es als Schutzhütte (abri) bei schlechter Witterung dienen können. Es ist jedoch voller Gerümpel und kann kaum betreten werden. Um es zu erhalten, wäre eine Renovierung dringend notwendig.

Als wir aus einem Wald heraustreten, sehen wir auf der Höhe eines Hanges zum ersten Mal Saugues, das heutige Tagesziel. Überrascht bin ich von einer großen Holzstatue am Abhang, von der ich bislang keine Kenntnis hatte. In einen Baumstamm ist die Gestalt des hl. Jakobus geschnitzt. In der Stadt besuchen wir die Medardus-Kirche und steigen auf den „Turm der Engländer“ (Tour des Anglais). Als Wächter des Turmes erkenne ich Lucien Gires wieder, der hier sein Maleratelier hat und ein Geschoss des Turmes mit großformatigen Gemälden zur Geschichte Saugues ausgestattet hat. Im Altersheim „Maison de Retraite Saint-Jacques“ neben der Büßerkapelle suche ich, vorbei an altersverwirrten Menschen, die Statue des hl. Jakobus auf. Auf unsere Bitte singt uns eine Frau das volkstümliche Lied von den Holzschuhen von Saugues vor („Erount de Saougues mous escloos“). Wegen des ungewohnten okzitanischen Textes wollen aber Ursula und Lisa dieses Lied nicht in ihr Repertoire aufnehmen. Dann gehen wir zur städtischen Wanderherberge im Campingplatz. Küche und Gemeinschaftsraum sind – nicht ganz der Vorschrift entsprechend – von Kindern und Jugendlichen belegt, die wegen der Kälte (tagsüber 14°, nachts unter 10°) nicht in ihren Zelten schlafen können. An ein Schwimmen im großen See des Campingplatzes ist nicht zu denken. Nach dem Abendessen verlassen wir sofort den Gemeinschaftsraum, um der Jugendgruppe Platz zu machen. [19]

9. 7. 1996 Dienstag: Saugues – Domaine du Sauvage

Als wir am Morgen im Aufenthaltsraum der Wanderherberge das Frühstück einnehmen wollen, schlafen die Jugendlichen noch fest. Aus Rücksicht verzichten wir auf eine Küchenbenützung und frühstücken in der Bar des Campingplatzes. Neben Brot, reichlich Butter und Marmelade erhalten wir nur eine kleine Tasse Kaffee. Verärgert verlasse ich die städtische Wanderherberge. Wanderer erzählen mir dann im Laufe des Tages, daß sie bestens in der privaten Wanderherberge von Madame Itier (zu einem Halbpensionspreis von FF 140,00) untergekommen sind. Auf der Straße über die Seuge verlassen wir Saugues und biegen ca. 100 m hinter der Brücke links in einen Weg, der gerade einen neuen Unterbau, wohl für eine Teerung, erhält. Bedauerlicherweise werden immer mehr Wege asphaltiert. .Im vorliegenden Fall kann das akzeptiert werden, denn dieser Weg stand bei Regen immer unter Wasser. Während einer Rast an der nächsten Brücke über die hier noch kleine Seuge kommen ein paar Reiter vorbei. Ich kann nicht erkennen, ob es sich um Jakobspilger handelt. Berittenen Wallfahren, die Wanderwege benutzen, begegne ich mit gemischten Gefühlen, weil die Hufe der Pferde den Boden aufwühlen. Jedoch erinnert mich der Anblick der Reiter daran, daß sich vor vielen Jahren einige Männer zu Pferde vom Kölner Dom aus auf den Weg nach Santiago machten. Nie habe ich nähere Einzelheiten dieser berittenen Wallfahrt in Erfahrung bringen können. An ihrer Planung hat wohl der große französische Jakobusforscher René de la Coste-Messelière mitgewirkt, der in diesem Jahr verstorben ist. In La Clauze betrübt mich der Zustand des „Versammlungshauses“ (assemblée), dessen Dach schon eingestürzt ist. Jedoch hängt die Glocke, die einst Kinder und Erwachsene des Dorfes zusammenrief, noch in ihrer Arkade. In Villeret-d’Apchier passiert mir ein Unglück: Der Fotoapparat fällt mir aus der Hand und prallt hart auf den Boden. Er lässt sich nicht mehr gebrauchen. Alle Aufnahmen müssen von nun an mit Lisas Apparat gemacht werden, der ebenfalls schon zu Boden gefallen ist, aber wie es scheint noch in Ordnung ist. Ursula und Lisa baden ihre Füße in der Virlange, die wir kurz hinter Villeret zum ersten Mal überschreiten. Lange gehen wir am Hang über den feuchten Niederungen des Wiesenbaches entlang. Ich vermisse die wohl längst verblühten Wildnarzissen, die den Schriftsteller Helmut Domke zu den schönsten Sätzen in seinem Aquitanienbuch veranlassten. Bei der nächsten Brücke über die Virlange (nahe an der D 587) legen wir eine Rast ein. Gegen Ende der Wanderung gelangen wir auf einen schönen Weg, der uns, vorbei an Aubrac-Kühen, Pferden und Schafen, zum Gut „Le Sauvage“ führt. Hier können wir Bauernkäse, Kartoffeln, Salat und Wein kaufen. Ursula bereitet ein schmackhaftes Abendessen. Danach singen wir wieder französische Volkslieder am Kamin. Uns fällt ein Belgier auf, der den ganzen Abend in seinem Tagebuch schreibt. Wir bekommen ein eigenes, erst vor kurzem hergerichtetes Zimmer. Insgesamt übernachten 10 Personen. Draußen wird es wieder recht kühl. Als [20] wir zu Bett gehen, betrachtet Lisa lange das Abendrot über der Margeride. Nachts bewundert Ursula den sternenklaren Himmel.

10. 7. 1996 Mittwoch: Domaine du Sauvage – Saint-Alban-sur-Limagnole

Am Morgen koche ich reichlich Kaffee und biete dem Belgier eine große Tasse (franz. „bol“) an. Er isst dazu Keks. Das ist sein ganzes Frühstück. Dann verabschieden wir uns von Frau Chausse, der Verwalterin des Gutes, und wandern los. An der Kapelle Saint-Roch auf dem Pass der Margeride machen wir die erste Rast des Tages. Lisa schreibt in das Gästebuch des daneben stehenden Hauses (abri), dass ihr die Wanderung mit uns Spaß macht. Hier sehen wir inmitten einer Wandergruppe eine Frau, die sich ihre Füße an nicht passenden Schuhen blutig gerieben hat. Für sie ist die Wanderung zu Ende. Mit Schrecken wird mir bewusst, dass das gleiche Schicksal auch Lisa hätte treffen können. Denn sie hat ihre neu gekauften Schuhe vor unserer Pilgerwanderung ebenfalls nicht erprobt. Ursula und ich haben noch nie passende Wanderschuhe gefunden und gehen deshalb seit Jahren, auch bei Regen, in Birkenstock-Sandalen, deren tiefes Fußbett aus Kork unseren Füßen etwas Halt gibt. Wegen der Sandalen werden wir oft mit einfachen Spaziergängern verwechselt.

Am Weg nach Saint-Alban hinein stehen große Texttafeln, die über die Jakobuswallfahrt informieren. Mir kommen Zweifel, ob es notwendig ist, solche Holzgestelle in die Landschaft zu setzen. Könnten die gebotenen Informationen nicht ebenso gut aus Wanderbüchern oder Pilgerführern entnommen werden. Am nächsten Tag werde ich allerdings anders darüber denken. Am Ortsrand von Saint-Alban kommen wir an einem Irrenhaus vorbei. Überall sind Menschen, die mit sich selbst reden, Grimassen schneiden oder einfach ganz apathisch dasitzen. Der Anblick dieser armen Kreaturen flößt mir Mitleid und Angst ein. In Saint-Alban belegen wir die Wanderherberge des Hotel du Centre. Danach gehen wir in die Albanus-Kirche auf der anderen Seite der Straße und erweisen dem hl. Jakobus, dargestellt in einem Glasfenster des Chores, unsere Reverenz. Zum Abendessen im Hotel bestellen wir das Menu mit Forelle, wie ich vor 15 Jahren hier bei meiner ersten Pilgerwanderung auf der „via podiensis“. Aber die Fische sind jetzt wesentlich kleiner. Ein nicht gerade freundlicher Mann bedient uns. Das Menu kostet 75 FF je Person. Auch mit der Wanderherberge sind wir nicht zufrieden. Die Küche ist im Schlafsaal (18 Betten) untergebracht. Im einzigen, kleinen WC der Wanderherberge stößt unser Rücken jedes mal an den eisernen Toilettenpapierkasten, der aber kein Papier enthält. Immerhin können wir unsere gewaschenen Sachen auf der Dachterrasse zum Trocknen aufhängen. Die Betten sind alles andere als bequem. Lisa schläft unruhig, wälzt sich während der Nacht hin und her. Kündigt sich bei ihr eine Erkältung an ? Ursula klagt anderntags über Druckstellen an ihrem Körper.

Wir sind die einzigen Gäste. Wie wir am nächsten Tag sehen werden, wäre eine Übernachtung in der Wanderherberge von Les Estrets besser gewesen. [21]

11. 7. 1996 Donnerstag: Saint-Alban – Aumont-Aubrac

Am Morgen frühstücken wir ausgiebig auf der Dachterrasse des Hotels und brechen auf. Der Weg aus Saint-Alban hinaus ist nicht gut markiert. Hocherfreut sind wir über eine Tafel zum französischen Jakobslied „Quand nous partimes“. Denn wir haben schon ein paar Mal bedauert, das entsprechende Liedblatt zu hause vergessen zu haben. Wir schreiben Text und Noten dieses Liedes ab und werden es von nun an öfters auf unserer Wanderung singen. Unser nächstes Ziel ist ein schönes und hohes Steinkreuz auf einer Anhöhe, das uns ein Stück weit als Wegweiser dient. Unsere Mittagsrast verbringen wir auf den Stufen der Kirche von Les Estrets. Lisa befreit eine Schwalbe, die sich in die Kirche verirrt hat. Während wir am Dorfbrunnen unseren Durst stillen, kommt mir der Gedanke, in der nächsten Auflage meines Wanderbuches zur „Via podiensis“ alle Stellen mit trinkbarem Wasser zu vermerken – ganz in der Tradition des „Pilgerführers“ des „Codex Calixtinus“ (12. Jahrh.), in dem es ein eigenes Kapitel über gutes und schlechtes Wasser am spanischen Jakobsweg gibt. Bevor wir Estrets verlassen, besichtigen wir die Wanderherberge von Madame Rousset. Wir sind begeistert über deren Einrichtung (Zimmer mit wenigen Betten) und beschließen, sollten wir eines fernen Tages die Tour wiederholen, hier zu übernachten. Frau Rousset lädt uns zu einem Getränk ein. Lisa spielt mit einem netten Kätzchen namens Tao, das zirkusreife Luftsprünge vollführen kann. Hinter dem Dorf überschreiten wir auf einer Brücke die Truyère und befinden uns in einer neuen Landschaft, dem Vulkanbergland des Aubrac. Aber auch hier tritt der für die Margeride typische Granit stellenweise auf.

Am frühen Nachmittag kommen wir in Aumont-Aubrac an und richten uns in einer Wanderherberge ein, die vor kurzem im Bauernhof Ferme du Barri am Ortseingang eingerichtet wurde. Auch hier ist alles vorhanden, was das Herz eines Wanderers begehrt. Wir zählen zu den ersten Gästen. Unser erster Gang in der Stadt gilt wiederum der Kirche. An ihrer Westfassade fällt uns eine große steinerne Jakobusmuschel auf, die ich bislang noch nicht gesehen habe. In der Kirche treffen wir zufällig den Ortspfarrer Lucien Robert. Er zeigt uns sein Pfarrzentrum neben der Kirche, wo Wanderer, vorzugsweise Pilger, einfach, aber billig die Nacht verbringen können (Matratzenlager in kleineren Sälen, Küchenbenützung).Im ehemaligen Prioratshaus, das ich vor Jahren verlassen und vermauert vorfand, ist jetzt das Fremdenverkehrsamt untergebracht. Es werden darin auch landestypische Erzeugnisse angeboten. Nach dem selbst zubereiteten Abendessen in unserer Wanderherberge besucht uns Vincent Boussuge, der Besitzer der Wanderherberge. Ihm gehört auch das Hotel Relais de Peyre an der Straße nach Marvejols (ebenfalls mit einer Wanderherberge). Wiederum singen wir französische Volkslieder. Herr Boussuge stimmt kräftig in das Trinklied „Chevaliers de la table ronde“ ein. [22]

12. 7. 1996 Freitag: Aumont-Aubrac – Nasbinals

Bevor wir von Aumont-Aubrac losziehen, besichtige ich Hotel und Wanderherberge des Relais de Peyre. In der Wanderherberge sind zu viele Betten auf engem Raum. Herr Boussuge möchte das in der nächsten Zeit ändern. Die Hotelzimmer (mit grand lit und einem einfachen Bett) sind meist mit Dusche und WC ausgestattet. In La Chaze de Peyre suche ich vergeblich nach Spuren des Jakobusaltares, der in einer alten Urkunde erwähnt wird. Die beiden Steinkreuze vor der Kirche stehen noch aufrecht, während ein drittes nicht weit davon zertrümmert am Boden liegt. In der Bastide-Kapelle, wo wir die erste Rast des Tages machen, schreibt Lisa einen Gruß an die Frau aus Brauweiler in das hier ausliegende Goldene Buch. Im Café von Les Quatre Chemins, wo jeder von uns ein erfrischendes Getränk zu sich nimmt, sehen wir zum ersten Mal an einem Nebentisch einen Mann mittleren Alters. Neben ihm sitzt eine wesentlich jüngere Frau. Wie wir später erfahren werden, gehört zu ihnen auch noch der Bruder der jungen Frau, der von Beruf Sänger ist. Sie werden uns bis Conques noch öfters über den Weg laufen und wollen in einem Zug bis Santiago de Compostela gehen. Wir machen uns Gedanken, in welchem Verhältnis der ältere Mann zur jungen Frau steht. Ursula denkt an ein Liebesverhältnis, während Lisa und ich den Mann für den Vater der Geschwister halten. Es bleibt ein Pilgergeheimnis, das wir nicht lüften wollen. Dann folgt ein Marsch durch eine Feuchtwiese. Stellenweise steht das Wasser knietief. Lisa fühlt sich schlapp, macht wohl eine Erkältung durch. In Rieutort d’Aubrac legt sie sich ermüdet auf den Boden. Wie jedes mal wenn ich durch diesen Ort komme, trinke ich am schönen Steinbrunnen nahe des Backhauses. Zwar ist das Wasser nicht als „eau potable“ ausgewiesen, aber bisher ist es mir immer gut bekommen. Hinter der Brücke über den Bès kann sich Lisa nur mit letzter Kraft weiterschleppen. Wir nehmen ihr den Rucksack ab. In Montgros ärgere ich mich über den unnötigen Umweg des GR 65, der nur zu dem Zweck angelegt wurde, die Wanderer an der Wanderherberge des Restaurants „Maison de Rosalie“ vorbeizuführen. Ich erinnere mich an die vielen negativen Urteile über diese Gaststätte: Die Wanderherberge sei schmutzig, die Preise der Gerichte seien überhöht.

Wir sind mehr als glücklich, endlich die kommunale Wanderherberge von Nasbinals an der Straße oberhalb der Kirche zu erreichen. Es ist die komfortabelste unser ganzen Wanderung. Lisa legt sich sofort ins Bett und schläft ein. Am Abend treffe ich zufällig Paul Finet wieder, der gerade im Gemeindesaal seinen Film über das Aubrac-Bergland vorführt. Diese Veranstaltung ist Teil des Programms der Gemeinde zum Nationalfeiertag der Franzosen, der übermorgen am 14. Juli gefeiert wird. In der „Kalebasse“ Nr. 12 (April 1993) wurde eine deutsche Übersetzung dieses Films abgedruckt. Lange unterhalte ich mich mit dem  Filmautor über die Schönheiten des Aubrac. [23]

13. 7. 1996 Samstag: Nasbinals – Saint-Chély-d’Aubrac

Wir schlafen lange. Lisa erwacht ausgeruht, aber noch nicht ganz gesund auf. Wir beschließen, mit dem Taxi bis Aubrac zu fahren und von dort die 8 km bis Saint-Chély zu wandern. Doch zuvor besichtigen wir den Ort Aubrac. Gespannt bin ich auf den baulichen Zustand der Kirche „Notre Dame des Pauvres d’Aubrac“. Als ich sie 1979 während meiner ersten Pilgerwanderung von Le Puy nach Conques zum ersten Mal sah, war sie in einem beklagenswerten Zustand. Risse durchzogen die mit Schimmel bedeckten Mauern. An ihrer Restaurierung im Jahre 1985 durften einige Mitglieder der St.-Jakobus-Bruderschaft Düsseldorf (Christa Brücker, Ehepaar Pennig und die Familien Pigulla und Wipper) mitwirken. Damals wurde ein Drainagegraben um die Kirche gelegt und das Dach neu eingedeckt. Die Mauern des Bauwerks sind aber immer noch nicht ganz trocken. Das Pfarrhaus hinter der Kirche ist nach wie vor in einem erbärmlichen Zustand. Dann suche ich die Stellen auf, an denen ich Lisa bei diesem Aufenthalt fotografiert habe. Sie war damals zwei Jahre alt. Leider ist aus der Kirche der Beichtstuhl verschwunden, in dem sie sich vor mir immer versteckt hat. Im botanischen Garten von Aubrac zwischen der Kirche und dem Turm der Engländer ( „Tour des Anglais“, jetzt Wanderherberge) sehe ich einen älteren Mann arbeiten und vermute in ihm Francis Nouyrigat. Ich täusche mich nicht. Bis dahin waren wir nur schriftlich miteinander bekannt. Herr Nouyrigat, der sich selbst als Hobby-Botaniker bezeichnet, hat ein wissenschaftlich fundiertes und reich bebildertes Werk über die Flora des Aubrac geschrieben. Neben der Kirche hat er auch die im Aubrac vorkommenden Gesteine ausgestellt und bezeichnet. Des weiteren höre ich, dass das Ehepaar Valéry ihr Hotel „Etape de l’Aubrac“, in dem ich öfters genächtigt habe, an das daneben stehende Restaurant „Chez Germaine“ (Madame Gros) verkauft hat. Jahrzehntelang waren sie im Winter die einzigen Bewohner des Ortes. Alle Läden des Hotels sind jetzt geschlossen.

An einem Stand auf dem großen Platz von Aubrac kaufen wir noch einen Kuchen („fouace de l’Aubrac“) und treten fröhlich den Abstieg vom Plateau des Aubrac an, vorbei an vielen Blumen und bereits verblühtem gelben Enzian. Hinter Belvezet, an der Steinbrücke über den Bergbach, rasten wir kurz. Mit Schmunzeln stelle ich fest, daß wir als Rastplätze Brücken über kleine Bäche und Kapellen bevorzugen. Lisa geht es gottseidank wieder gut. Während der Wanderung lernt sie von Ursula den Kanon „Dona nobis pacem“. Um etwa zwei Uhr treffen wir in Saint-Chély ein und belegen das Hotel Azam. Beide Wanderherbergen des Ortes sind leider durch Gruppen belegt. Am Abend essen wir das Menü mit Aligot (98 F), eine landestypische Speise aus Käse und Kartoffel, die lange Fäden zieht. Als Fleisch müssen wir Rindfleisch (boeuf) nehmen, obwohl auf der Speisekarte am Eingang des Hotels auch Lammkoteletts zu diesem Menü angeboten werden. Die Tochter der Wirtin, eine selbstbewusste kleine Dame von [24] etwa 10 Jahren, hilft beim Bedienen. Das Essen ist seinen Preis wert. Danach sehen wir uns im Gemeindesaal volkstümliche Tänze an, mit denen hier der morgige Nationalfeiertag „eingefeiert“ wird.

14. 7. 1996 Sonntag: Saint-Chély – Saint-Come-d’Olt

Gleich nach dem Frühstück im Hotel verlassen wir den Ort und schreiten über die schöne Steinbrücke über den Sturzbach „Boralde de Saint-Chély“. Es wird der erste heiße Tag unserer Wanderung werden. Am Südhang des Aubrac-Berglandes treffen wir auf die ersten Maronenbäume. In ihrem Schatten steigen wir zum Tal des Lot hinunter. Am frühen Nachmittag belegen wir die Wanderherberge von Saint-Côme, die im französischen Wanderführer von Louis Laborde-Balen als „superbe“ bezeichnet wird. Die Lage in einem alten Gebäude des Ortes verdient zwar heute noch dieses positive Urteil, aber die Einrichtung verkommt zusehends. Der Kühlschrank läuft zwar noch, aber kühlt nicht mehr. Die Bezüge einiger Matratzen starren vor Dreck. Es ist Sonntagnachmittag, und kein Lebensmittelgeschäft hat im Ort geöffnet. Ursula und Lisa gehen an der alten Brücke von Saint-Côme im Lot baden. An dieser Stelle fließt der Lot mit starker Strömung vorbei, und die in der Flussmitte Badenden können dem Wasserdruck kaum widerstehen. Das erinnert mich an einen früheren Ferienaufenthalt in Cajarc am Lot, wo der Fluß recht träge vorbeifließt. Scherzhart nannte meine damals dreijähre Tochter Eva-Maria den Fluß „flotte Lotte“. Hier in Saint-Côme ist der Lot aber wirklich flott. Am Abend machen wir Bekanntschaft mit der Schwester des Pfarrers und spazieren zur Kapelle Bouysse, wo gerade provenzalische Mönche Erzeugnisse ihres Landes anbieten.

15. 7. 1996 Montag: Saint-Côme – Estaing

Fast jeden Tag wache ich früh auf, auch in Saint-Côme. Um fünf Uhr höre ich zum ersten Mal die Glocken schlagen, zweimal hintereinander fünf Schläge. Um sieben Uhr werden die Glockenschläge durch ein melodiöses Glockenspiel eingeleitet. Wir haben in der Wanderherberge eine schlechte Nacht verbracht. Am Morgen sind wir noch ermattet und beschließen, auf dem historischen Weg, also auf relativ ebenen, aber geteerten Straßen nach Estaing zu gehen. Es ist heiß im Lot-Tal, und die Straßen D 556 und D 100 besitzen kaum schattenspendende Bäume. Wir finden diesen Tag schlimmer als den Tag, als wir bei Regen von Rochegude hinunter ins Allier-Tal stiegen. Wir besichtigen die romanische Kirche von Perse kurz vor Espalion. In der Stadt wollen wir Geld vom Geldautomaten abheben, aber dieser ist „indisponible“, wie uns ein Leuchtfeld anzeigt. An der romanischen Kirche von Saint-Pierre de Bessuéjouls machen wir Rast. Der Hauptaltar ist dem hl. Petrus, die Kapelle im Obergeschoss des Turmes dem hl. Michael geweiht. Ursula schätzt diese Kirche besonders, weil ihre beiden Söhne die Namen dieser Heiligen tragen. In einem Gebäude neben der Kirche [25] ist ein Pfadfinderlager untergebracht. Hier machen wir die Bekanntschaft mit zwei älteren sympathischen Frauen, die später von Lisa „Raschelfrauen“ genannt werden, weil sie im heutigen Nachtlager um 23.00 Uhr lange Zeit an ihren Rucksäcken hantieren. In Estaing werden wir von der Kommunität Saint-Jacques freundlich empfangen. Ein paar Laien pflegen im ehemaligen „Collège“ (hinter der „mairie“) ein klosterähnliches Leben mit Stundengebet und sorgen sich um die hier einkehrenden Pilger. Führender Kopf ist ein Mediziner, der, wie mir gesagt wurde, sechs Kinder hat. Zwei Schlafsäle mit eng gestellten Betten stehen zur Verfügung. Man hat kaum Platz für die Rucksäcke. Es gibt keinen Aufenthaltsraum mit Tischen und Bänken, auch keine Küche für die Gäste. Jedoch können die Pilger hier das Essen gemeinsam mit den Mitgliedern der Kommunität einnehmen. Für Kost und Logis wird eine Spende erwartet. Heute sind etwa 10 Pilger zu Gast. Am Nachmittag erfrischen wir uns im Bad („piscine“) von Estaing, einem Schwimmbecken ohne Grünfläche. Um 19.00 Uhr nehmen wir am Abendessen teil, das – ganz asketischer Mönchstradition entsprechend – aus salzarmer Suppe und einem gehaltvollen, aber ebenfalls salzarmen Reissalat besteht. Dazu trinkt man Wasser. Leider können wir an den Gottesdiensten nicht teilnehmen: Am Abend sind wir zu müde, am nächsten Morgen brechen wir schon vor den Laudes auf.

16. 7. 1996 Dienstag: Estaing – Golinhac

Kurz nach sechs Uhr wecke ich Ursula und Lisa. Denn wir wollen früh starten, um der zu erwartenden Mittagshitze zu entgehen. Punkt sieben Uhr sind wir aus dem Haus. Über Estaing schwirren Hunderte von Schwalben. Auf der alten Brücke überqueren wir den Lot und steigen dann – meistens im Schatten von Bäumen – auf eine Hochfläche hinauf. Gegen Mittag kommen wir in Golinhac an. Das örtliche, gut sortierte Lebensmittelgeschäft hat noch offen. Die Wanderherberge im Campingplatz hat ein 2-Bett, ein 3-Bett-Zimmer und zwei Schlafsäle mit je sechs Betten. Küche und sanitäre Anlagen sind in Ordnung. Die für die „Gîte“ verantwortliche Marie-Odile Séguy, eine Frau von beträchtlicher Leibesfülle, weist uns auf einen Badesee („plan d’eau“) hin. Sie schickt eine Jugendgruppe in die Gîte équestre von La Fouillade ca. 500 m vor Golinhac, ebenfalls am GR 65, damit die Nachtruhe in der Wanderherberge nicht gestört wird. Am frühen Abend trifft eine Gruppe von acht Spaniern ein, die ihre Pilgerwanderung in Le Puy begonnen haben und bis Roncesvalles gehen wollen. Die Wanderherberge ist damit voll belegt. Den beiden „Raschelfrauen“ haben wir das Doppelzimmer reserviert. Kurz bevor ich zu Bett gehe, lerne ich Patrick Huchet kennen, der ein Buch über die Geschichte der hl. Anna von Auray (Bretagne) geschrieben hat. Er ist gerade dabei, für den Verlag Ouest France ein Buch über die Jakobswallfahrt zu schreiben. [26]

17. 7. 1996 Mittwoch: Golinhac – Conques

Wie auf ein geheimes Zeichen stehen um sechs Uhr alle Pilger auf. Während des Frühstücks gibt es ein großes Gedränge in der kleinen Küche und im Aufenthaltsraum. Alle wollen eben schon am kühlen Morgen einen großen Teil der Strecke bis Conques zurücklegen, um die Mittagshitze zu vermeiden. Schon in Campagnac sehen wir Sénergues, das am Turm seines Chateau zu erkennen ist. Seit kurzem führt der GR 65 durch dieses Städtchen und nicht mehr durch Le Vern und Taulan. In Espeyrac muß ich feststellen, dass es das Hotel de la Poste, das so vielen Mitgliedern unserer St.-Jakobus-Bruderschaft als Unterkunft gedient hat, nicht mehr existiert. Die Witwe, der das Hotel gehörte, hat wohl aus Altersgründen aufgeben müssen. Hier ist einer Pilgergruppe aus Coesfeld eine lustige Begebenheit zugestoßen, die Pastor Frintrop in seinem Bericht festgehalten hat.

Hinter dem Friedhof von Espeyrac kommen wir zu dem neuen Weg nach Sénergues. Gleich am Anfang der Neustrecke, an einer neuen Holzbrücke (mit Muschel und Pilgerstab) machen wir Rast. In Sénergues treffen wir auf den Stufen zur Kirche einen alten Mann, der eine fast ebenso alte Hose anhat. Er blickt uns freundlich an. Ich vermute in ihm den Pfarrer, was er mir im Laufe des Gesprächs auch bestätigt. Kurz hinter Sénergues kommen wir an einem Haus vorbei, wo ich eine Frau nach dem Weg frage. Als Dank bieten wir ihr an, ein französisches Volkslied ihrer Wahl zu singen, sofern wir es kennen. Das sie mit Vornamen Jeannette heißt, wünscht sie sich das Lied „Ne pleure pas Jeannette“. Ursula und Lisa singen es ihr mit großer Freude vor. Ob diese Frau wohl weiß, daß dieses Lied im engen Zusammenhang mit einem Lied der französischen Jakobspilger, der „Pernette“ steht. Hinter Fontromieu (= Brunnen der Pilger) kommen wir zum Dorf Saint-Marcel, von dem es nichts Großartiges zu berichten gibt, außer dass hier zum Wohle der Pilger eine öffentliche Toilette und ein öffentlicher Wasserhahn eingerichtet wurden. Da es sehr heiß ist, wissen wir das trinkbare Wasser zu schätzen. Die Versorgung mit Trinkwasser war bisher nicht immer leicht, und man würde sich wünschen, dass es mehr öffentliche Brunnen am Wege gäbe. Denn den Anwohnern werden allmählich die dauernden Bitten um Wasser lästig.

In der Mittagshitze steigen wir in einem von Mauern gesäumten Hohlweg im Schutze schattenspendender Bäume nach Conques hinunter. Erst kurz davor taucht das lange erwartete Conques mit seiner majestätischen Klosterkirche auf. Auf einem gepflasterten Weg gehen wir in die Mitte des Ortes und begrüßen in der Kirche die hl. Fides (fr. Sainte Foy). Dann treten wir in die Hotellerie „Accueil sainte Foy“, einem großen Gebäude hinter dem Chor der Klosterkirche, ein. Wir werden bereits vom Prior, dem Bruder Jean-Régis erwartet und singen ihm zur Begrüßung das Lied „Dona nobis pacem“ vor, in das er zu unserer großen Überraschung mit einstimmt. Der Prior, im weißen Habit der Prämonstratenser und mit einem „Handy“ bewaffnet, hat an die[27]sem Tag alle Hände voll zu tun, die Gäste in seinem Haus unterzubringen, und wischt sich ständig den Schweiß vom Gesicht. Trotzdem macht er einen fröhlichen Eindruck. Das Prämonstratenserpriorat besteht zur Zeit aus vier Mönchen: neben dem eben genannten Prior die Brüder Jean-Daniel (Organist), Amans und Donatien. Bis auf Bruder Amans, der aus der provenzalischen Abtei Frigolet stammt, gehören sie zur Abtei Mondaye. Gegen ein Heer religiös uninteressierter Touristen halten diese vier Mönche heute die mehr als 1000jährige monastische Tradition aufrecht. Ihnen sind die Kirche, das Kirchenschatz-Museum und die oben genannte Pilgerherberge anvertraut. Am Nachmittag erkläre ich meinen Begleiterinnen kurz das Tympanon der Klosterkirche. An keiner Stelle der Christenheit ist der Glaube, dass eines Tages, eben im Weltgericht des Jüngsten Tages, gute Taten belohnt und böse bestraft werden, so eindrucksvoll in Stein gehauen wie in Conques. Lange verweilt Ursulas Blick bei der Bestrafung der Ehebrecher: ein Mann und eine Frau, die mit einem Strick um den Hals erwürgt werden. Hat sie doch 10 Jahre lang um ihre Ehe gekämpft, die wegen der Untreue ihres Mannes nicht zu retten war. Dagegen interessiert sich Lisa mehr für die kleine gekrümmte Gestalt am Rande des Bogenfeldes. Es ist Ariviscus, jener Mönch aus Conques, der die Reliquien der hl. Fides in Agen gestohlen und hierher gebracht hat. Dieser „fromme Diebstahl“ legte die Grundlagen für den Aufstieg des Benediktinerklosters. Lisa findet die Tat dieses Mönches echt „geil“, wundert sich aber, dass der „oberste Chef im Himmel“ diesen Diebstahl gutgeheißen hat. Dann gehe ich zur klostereigenen Buchhandlung, wo ich zwei Bücher kaufe: „Il est un beau chemin…“ von Jacques Clouteau (beschreibt die Erlebnisse auf seiner Wanderung von Le Puy nach Santiago, insbesondere die mit seinem Esel Ferdinand) und „Retours à Conques“ des Romanautors und Dichters Jean-Claude Bourlès (beschreibt auf sehr poetische Weise seine Pilgerwanderung von Le Puy nach Conques). Um 19.00 Uhr nehmen wir das Abendessen in der Herberge ein. Es gibt etwas Wurst, Lassagne und Wasser, auf Bestellung Wein, eigentlich nicht genug für hungrige Wanderer. Zwei Stunden später läutet es zur Vigil, dem Nachtgebet der Mönche, an dem auch wir teilnehmen. Ein Psalm wird gesungen, nicht in der Art des gregorianischen Chorals der Benediktinermönche, sondern etwas moderner, aber durchaus ehrwürdig. Gegen Ende der Vigil werden von Zetteln Fürbitten abgelesen, in den schweres menschliches Leid zur Sprache kommt: Alkoholismus, Drogensucht, Zerrüttung einer Ehe, Entfremdung der Eltern von ihren Kindern usw. Nur die letzte Fürbitte macht mich weniger betroffen. Für ein Ehepaar, das seit 10 Jahren kinderlos ist, wird die hl. Fides von Conques, auch sie eine Heilige des Kindersegens, um Hilfe angefleht. Nach Abschluss der Vigil wird der Pilgersegen erteilt. Dazu singen alle Anwesenden ein wohlklingendes Pilgerlied („Chant des Pèlerins de Compostelle“, von J. Claude Benazet). Jedem Pilger wird ein Evangelienbuch mit auf den Weg gegeben. Zum Schluss gehen alle, Mönche und Laien, unter das Marienrelief im Nordquerschiff und singen das „Salve regina“. Als ich mich [28] schlafen lege, frage ich besorgt, ob in der Klosterkirche von Conques auch durch das 3. Jahrtausend hindurch das Stundengebet von Mönchen gesungen wird. Aber was sind schon Jahrtausende für das Christentum, das Gebete mit der Formel „Von Ewigkeit zu Ewigkeit“ abschließt.