Heinrich Wipper: Über die Entstehung und das Fortleben eines Irrtums

(aus: Die Kalebasse, Nr. 8, 1991, S. 30f)

Über die Entstehung und das Fortleben eines Irrtums.
Fußnote zur Kulturgeschichte der Jakobsmuschel
Von Heinrich Wipper, M.A. 


Muscheln als Zeichen der Jakobspilger werden zum ersten Mal im „Liber Sancti Jacobi“ , einer Sammelhandschrift des 12. Jahrhunderts, in Verbindung mit der Wallfahrt nach Santiago de Compostela gebracht. Im 5. Buch der genannten Quelle wird bei der Beschreibung der Kathedrale von Santiago ihr Verkauf erwähnt. Im folgenden sei die Passage (mit deutscher Interlinearübersetzung) abgedruckt: 

Hinter  dem Brunnen    ist das Paradies,           wie wir (schon) gesagt haben,
Post fontem                 habetur paradisus,        ut diximus,  

mit Steinen gepflastert,            in dem Schalen von Meerestieren,
pavimento lapideo factus,        in quo crusille piscium 

die Abzeichen des hl. Jakobus,verkauft werden den Pilgern.
id est intersigna beati Jacobi    venduntur           peregrinis.           

Mit „Paradies“ meinte man im Mittelalter die Vorhalle oder allgemeiner den Vorhof von Kirchen. Desweiteren werden in der Predigt „Veneranda dies“ enthalten im ersten Buch des „Liber Sancti Jacobi“, noch Aussagen über die symbolische und moralische Bedeutung der Jakobsmuscheln gemacht.

Einem Verlagsprospekt der Franck’schen Verlagshandlung (Stuttgart) entnahm ich 1977, dass ein Bestimmungsbuch, in dem Planzen und Tiere der europäischen Küsten farbig abgebildet und beschrieben werden, in Bälde erscheinen würde. Da ich seit langem auf der Suche nach einer korrekten wissenschaftlichen Beschreibung der  „Jakobsmuschel“ war, bestellte ich sofort den Titel. Nach Erscheinen war ich sehr enttäuscht, dass dort (Campbell 1977, S. 172f) die Muschel „Pecten jacobaeus“ zwar beschrieben, aber nicht abgebildet wurde, hingegen die ähnlich aussehende Große Kammuschel (Pecten maximus) einer Farbabbildung gewürdigt wurde. Die Beschreibung der beiden Kammuscheln lautet:

Pecten maximus: Große Kammuschel. Schale: bis 15 cm; obere (linke)  Schalenklappe flach; auffällige, im Querschnitt abgerundete Rippen. Farbe: obere Klappe rot-braun; untere (rechte) Klappe weiß-braun mit bräunlicher Zeichnung. Vorkommen: auf verschiedenen Weichböden, gewöhnlich in größerer Tiefe. Verbreitung: Atlantik, Ärmelkanal und Nordsee. Anmerkung: Die Abbildung zeigt die Innenseite der oberen und die Außenseite der unteren Schalenklappe.

Pecten jacobaeus: Jakobspilgermuschel (nicht abgebildet). Schale: bis 13 cm; typische Kammuschelgestalt mit auffälligen Rippen und Ohren; obere (linke) Klappe flach; untere Klappe (rechte) schüsselförmig; Rippen im Querschnitt nicht abgerundet, sondern eckig. Farbe: obere Klappe rot-braun, zumeist gefleckt; untere Klappe rosa. Vorkommen: auf verschiedenen Weichböden, häufig im tieferen Wasser. Verbreitung: Mittelmeer.

Desweiteren glaubte ich, dass hier eine Verwechslung des Autors oder Übersetzers vorliegen müsse, denn die Art Pecten jacobaeus wird als im Mittelmeer beheimatet ausgewiesen, während die Jakobspilger die atlantische Spezies, im Text als Pecten maximus angesprochen, an Hut und Mantel hefteten. Also schrieb ich an den [30]Stuttgarter Verlag, der das Schreiben an den englischen Lizenzgeber schickte, der es wiederum an den Autor Campbell weiterleitete. Die Antwort kam auf demselben Weg zurück: Den Irrtum, die mittelmeerische statt der atlantischen Art mit Pecten jacobaeus zu bezeichnen, hat Linné, der Vater der zoologischen Klassifikation, selbst begangen. Eine Umbenennung sei nicht mehr möglich, da der Name der wissenschaftlichen Erstbeschreibung Priorität vor Irrtümern dieser Art habe. Seitdem habe ich in vielen meiner Vorträge zur Jakobswallfahrt auf diese Verwechslung hingewiesen.

Als Professor Dr. Kurt Köster (Frankfurt) daran ging, die Funde der von Jakobspilgern getragenen Muscheln zu inventarisieren, traute er der Sache nicht und schaltete für die zoologische Bestimmung das renommierte Senckenbergische Museum und Forschungsinstitut ein (Köster 1983, S. 122), das den Irrtum Linnés bestätigte. In die wissenschaftliche Literatur über die Jakobuswallfahrt gelangte der Irrtum durch das heute noch viel benutzte Standardwerk der Autoren Vazquez de Parga, Lacarra und Uria (Madrid 1949, Band 1, S. 129). Dieser Verwechslung sind bis vor kurzem alle Jakobusforscher gefolgt (z.B. Ploetz 1984, S. 34, Fußn. 58). Dieser Irrtum erweist sich als zählebig und ist noch in vielen Veröffentlichungen unserer Tage, auch in den flinken Reportagen sonst gut informierter Zeitungen (z.B. Staguhn 1985) zu finden.

Literaturangaben:

Campbell, Andrews C.: Der Kosmos-Strandführer. Pflanzen und Tiere der europäischen Küsten in Farbe. Franckh, Stuttgart 1977

Campbell, Andrew C.: Was lebt im Mittelmeer ? Pflanzen und Tiere der Mittelmeerküste in Farbe. Franckh, Stuttgart, 1983

Cox, Ian (ed.): The scallop. Studies of a shell and its influences on humankind. London 1957.

Gertz, Kurt Peter: Kuriositäten im Zeichen der Muschel. In: Köln als Pilgerziel und Sammelpunkt der Jakobspilger. Akten des 1. Internationalen Treffens der "Sankt-Jakobusbruderschaft Düsseldorf e. V." Düsseldorf 1987, S. 85-87

Köster, Kurt: Pilgerzeichen und Pilgermuscheln von mittelalterlichen Santiagostraßen. Saint-Léonard, Rocamadour, Saint-Gilles, Santiago de Compostela (Ausgrabungen in Schleswig, Berichte und Studien, 2). Wachholtz, Neumünster 1983

Ploetz, Robert: Santiago-peregrinatio und Jacobus-Kult mit besonderer Berücksichtigung des deutschen Frankenlandes. In: Gesammelte Aufsätze zur Kulturgeschichte Spaniens, 31. Band. Münster 1984, S. 24-135

Staguhn, Gerhard: Asphalt auf dem alten Jakobsweg. In: ZEIT-Magazin, Nr. 50, Dezember 1985, S. 10-21

Vasquez de Parga, Luis/ Lacarra, José Ma./ Uria Riu, Juan: Las peregrinaciones a Santiago de Compostela. Madrid 1949, 3 Bände; Nachdruck: Asturias 1981