Masterarbeit, vorgelegt der Philosophischen Fakultät der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, WS 2023/24
Rezension von Heinrich Wipper (M.A.)
Erschienen in der Kalebasse Nr. 76/2024 Seite 62 – 64
Mit einer Pilgerwanderung auf der Via Podiensis von Le Puy nach Aubrac im Jahre 1979 fing alles an. Als die Pilger nach einer anstrengenden Wanderung die Passhöhe von Aubrac erreichten, waren sie entsetzt über den schlechten Zustand der Kirche des ehemaligen Passklosters. Nach der Rückkehr gründeten die Düsseldorfer Wanderer eine Jakobusbruderschaft mit dem Ziel, das Pilgern auf Jakobswegen neu zu beleben, schon damals mit dem Hintergedanken, etwas für die Rettung der Kirche Notre-Dame des Pauvres (= Unsere Liebe Frau von den Armen) auf dem Aubrac-Pass zu tun. Und in der Tat fuhren 1985 Mitglieder der Bruderschaft, inzwischen zum e.V. avanciert, ins französische Zentralmassiv und haben mit Schaufel und Spaten bei der Renovierung dieser Kirche mitgeholfen.
2011, also viele Jahre später, kam auch der erste Vorsitzende der Düsseldorfer Jakobusbruderschaft, Prof. Dr. Gerd Gellißen, auf seiner 2700 km langen Pilgerwanderung von Köln nach Santiago durch die Berge von Aubrac. In seinem mehr als 400 Seiten umfassenden Pilgerbericht fällt kein Wort, dass er vorhabe, sich eines Tages wissenschaftlich mit dem Pilgerhospiz auf der Passhöhe dieses Berglands zu befassen. Er tat es aber.
Gellißen hat in der Masterarbeit (WS 2023/2024) seines Zweitstudiums (Geschichte und Antike Kultur) an der Universität Düsseldorf die Geschichte des bedeutenden Pilgerhospizes und seines Gründers Adalard, die geographischen und politischen Voraussetzungen für die Gründung, die wirtschaftliche Ausstattung des Hospizes und die Motive von Gründer und Ausstattern anhand von geschichtlichen Quellen und historischen Untersuchungen bearbeitet. Er versucht eine Einordnung der Hospizgründung in die abendländische Hospitalgeschichte vor dem Hintergrund der religiösen und sozialen Bewegungen der Gründungszeit.
Die Arbeit liest sich streckenweise wie ein Kriminalroman: Über den Aubrac führte im Mittelalter eine Pilger- und Handelsstraße, die auf einem damals noch bestehenden Abschnitt der römischen Via Agrippa verlief. In der Nähe des Hospizes wurden die in der Peutingerkarte (eine antike Straßenkarte des Römischen Imperiums) aufgeführte römische Reisestation Ad silanum und ein römischer Tempel nachgewiesen. Das wichtigste Handelsgut war Salz. Die Kontrolle über den Aubrac und die ihn querende Handelsstraße führte zu erbitterten blutigen Fehden zwischen lokalen adligen Grundherren. Aufgrund dieser Auseinandersetzungen wurde der Aubrac zu einem mehr oder weniger rechtlosen Gebiet, in dem Räuber, auch solche adliger Herkunft, ihr Unwesen trieben, die auch vor Mord und Totschlag nicht zurückschreckten – in der Gründungslegende und in verschiedenen Dokumenten wird von 30 ermordeten Pilgern berichtet. Zur Befriedung dieser Gefahrenlage wurde im Rahmen einer regionalen Paix-de-Dieu- (Gottesfrieden) Bewegung ein Lieu de paix (Friedensbereich) installiert, dem verschiedene sogenannte Sauvetés (Sicherheitsbereiche) zugeordnet waren. In ihm wurden den Flüchtlingen regionaler Konflikte und auch Pilgern Schutz gewährt. Dies wurde im Falle Aubracs einer neutralen adligen Persönlichkeit von außerhalb übertragen, nämlich dem Adalard, dem Vicomte der Grafen von Flandern. Die Motivation der regionalen Erstausstatter für die Hospizgründung wurde vorrangig durch diese regionale Bewegung bestimmt.
Das Hôpital d’Aubrac (Gründung um 1120) war eingebettet in ein Netz von Hospitälern, die in dieser Zeit gegründet wurden. Das 12. und 13. Jahrhundert wurden aufgrund einer im 11. Jahrhundert einsetzenden Armutsbewegung zur „Goldenen Zeit der Hospitalgründungen.“ Diese Einrichtungen standen in der Tradition des abendländischen Fürsorgewesens, das mit dem Christentum entstand. In ihm nahm das „Hospital“ eine zentrale Stellung ein. In der vorchristlichen Antike hat es derartige „Hospitäler“ nicht gegeben. „Hospital“ war ein Sammelbegriff für verschiedene karitative Institutionen wie Altersheime, Krankenhäuser oder Pilgerhospize. Die in ihnen betreuten Personen, nämlich Pilger, Betagte, Obdachlose, Mittellose und Kranke waren die „Armen“ des Mittelalters.
Die Armutsbewegung erfasste ganz Europa. Die Rückbesinnung auf persönliche Armut und Bedürfnislosigkeit ließ neue Orden entstehen, so den Zisterzienser- und den Franziskanerorden. Augustinerchorherren versahen in Hospizen in dieser persönlichen Armut karitative Dienste an Armen und Kranken. Es entstanden neue karitative Orden und Gemeinschaften wie die Johanniter, Templer und Beginen, die den gleichen Idealen häufig nach augustinischen Regeln folgten. Die Armutsbewegung zog insbesondere Angehörige der sozialen Oberschichten an. Sie traten entweder selbst in die verschiedenen karitativen Gemeinschaften ein oder unterstützten sie mit Schenkungen oder durch testamentarische Nachlässe. Ihre Motivation war das Heilsversprechen Christi und die Aussicht auf das Paradies (Mk 10,21: „Geh hin, verkaufe, was Du hast, gib es den Armen und Du wirst einen bleibenden Schatz im Himmel haben, dann komm und folge mir nach.“). „Neue“ Heilige wie die hl. Elisabeth von Thüringen oder der hl. Rochus folgten diesem Ideal.
Doch jetzt zurück zum Gründer des Hospizes von Aubrac. Wer war Adalard? Seine Identität konnte in der Arbeit Gellißens durch Quellen (Urkunden der Grafen von Flandern) abgesichert werden. Der Gründer Aubracs war Adalard II d’Esne des Pethegem (~1080-1134), Bouteiller und Vicomte unter Robert II. von Flandern (Robert der Kreuzfahrer). Die Grafen von Flandern gehörten zur direkten Verwandtschaft der de Pethegems. Adalard erlebte als Jugendlicher den Aufruf zum 1. Kreuzzug durch Papst Urban II. Sein Vater Odon und sein Vetter Arnold begleiteten Robert II. auf dem 1. Kreuzzug. Odon hatte zuvor die Abtei Oudenbourg gestiftet. Adalard wuchs also in einer religiös geprägten Familie auf. Um 1118 muss er auf eine Pilgerfahrt nach Santiago aufgebrochen sein, im Gefolge 30 Ritter. Dies deutet möglicherweise daraufhin, dass er sich an der Reconquista, dem Kampf gegen die Mauren in Spanien, beteiligen wollte. Auf seiner Rückreise (nach anderen Legendenversionen bereits auf der Hinreise) gelobte er aufgrund einer Vision am Platz von 30 ermordeten Pilgern, ein Hospiz für Pilger zu gründen. Er begann seine Aufbauarbeit zwei Jahre später. Seine Gründung unterstellte er den Regeln des hl. Augustinus und den Idealen der Armutsbewegung. Er tat dies, wie aus einer Schenkungsurkunde an das Benediktinerkloster in Conques hervorgeht zur „Rettung seiner Seele“.
Nachfolgende Donatoren gaben Geld und Ländereien aus den gleichen Motiven und ließen Aubrac zu einer großen Grundherrschaft erstarken. In seiner Blütenzeit nach 1300 unterstanden dem Hospital 14 Dependancen mit Hospitalfunktionen und ein Leprosorium. Einkünfte bezog das Hospital hauptsächlich aus Land- und Viehwirtschaft.
Das Hôpital d’Aubrac ist ein herausragendes Beispiel für eine Hospizgründung im „Goldenen Zeitalter“. Geschichte und Geschichten machen aus seinem Gründer Adalard einen „Miles Christianus“ (Soldat Christi) für Sicherheit und Ordnung auf dem Weg durch das Bergland von Aubrac.