– auf dem französischen Jakobsweg „via turonensis“. Solingen: Verlag U. Nink 2023. 197 S., ISBN 978-3-934159-61-7, € 21,80 (UVP)
Rezision Dr. Ferdinand Beßelmann
Das Titelbild des neuen Buches zeigt den Autor in einem Kreisverkehr von Belin-Béliet, auf dem eine große stilisierte Jakobsmuschel installiert wurde. Seine Hand ergreift eine Muschelrippe mit der Aufschrift „VIA TURONENSIS“.
Auch wenn die Literatur zum Jakobsweg längst unüberschaubar geworden ist und gedruckte Pilgerberichte Legion sind, so fällt der inzwischen sechste Bericht von Kurt-Peter Gertz über sein Pilgern auf einem der klassischen Jakobswege durch einige Besonderheiten unter ihnen auf. Da ist zuerst die Tatsache zu nennen, dass der in Ratingen im Ruhestand lebende Pfarrer jetzt auch den letzten der vier klassischen französischen Jakobswege absolviert hat, die sich spätestens in Puente la Reina treffen und von hier an den eigentlichen Camino francés bilden. Vor allen diesen Wegen durch Frankreich fand seine erste Jakobuswallfahrt 1983 (!) statt und führte von St-Palais kurz vor den Pyrenäen bis nach Santiago; die „Anschlusstour“ von Santiago nach Muxía und Fisterra absolvierte er zum Silberjubiläum dieser Tour 2008. Und das sind noch lange nicht alle Jakobswege, die Gertz begangen hat, wie auch im vorliegenden Band aufscheint. Darüber hinaus macht er auch keinen Hehl aus seinem Alter: Knapp zwei Monate nach der Rückkehr konnte er die Vollendung seines 80. Lebensjahres feiern – wer wagt in diesem Alter noch das Vorhaben anzugehen, mehr als 1.000 km zu Fuß zurückzulegen?
Natürlich unterscheidet sich diese Pilgerschaft deutlich von seiner ersten, aber auch von der vieler junger Jakobuswallfahrer, die von Herberge zu Herberge streben, alles mit sich tragen, was sie für die Zeit auf dem Jakobsweg benötigen, manchmal sogar ein Zelt, und die nur sehr begrenzt Zeit haben: zehn Tage, zwei, manche auch drei Wochen, aber kaum einer mehr als einen Monat. Gertz konnte, wie er selbst schreibt, diesen Weg nur mit mancherlei Hilfe bewältigen, zuvörderst durch eine Begleitung, die sowohl die Unterkünfte organisierte als auch Anreise wie Transfer zu den Ausgangs- und Endpunkten der Tagesetappen vornahm. Die Suche nach passenden Hotels, Hostals und Pensionen, aber auch Privatzimmern war nicht immer einfach; die vorgebuchten Unterkünfte samt Transfer erlaubten ihm, nur mit Tagesgepäck zu laufen. Und dennoch bleibt es eine große Leistung, bei Temperaturen, die sich gelegentlich der 40° C-Marke näherten, meist 20–25 km pro Tag (manchmal sogar mehr) zu laufen, und das über exakt 12 Wochen, an 64 „Lauftagen“. Chapeau!
Kurt-Peter Gertz beginnt seinen Weg nicht im namengebenden Tours, sondern am Platz der 1797 bis auf den Turm (Tour St-Jacques) abgerissenen Jakobuskirche in Paris und wählt die Variante über Orléans und das Loiretal statt des ebenso möglichen Weges über den wichtigen Marienwallfahrtsort Chartres und Vendôme. Beide Äste kommen bei Vouvray gut zehn Kilometer vor Tours wieder zusammen. Der Loire folgt er ab Orléans zunächst auf dem rechten Ufer und wechselt mehrmals die Seite, um ab Vouvray endgültig dem rechten Ufer zu folgen. Der weitere Weg ist weniger „wechselhaft“: Es geht über die bekannten Stationen Ste-Cathérine-de-Fierbois, Châtellerault, Poitiers, St-Jean d‘Angély, Saintes und Pons bis an die Gironde, die er in Blaye überquert. Von Bordeaux zieht sich seine Route durch die Landes nach Dax und über Sorde-l’Abbaye zum Stein von Gibraltar, wo auch die Wege aus Vézelay und Le Puy enden. Gertz endet hier aber noch nicht, sondern folgt dem Camino über Roncesvalles und Pamplona bis Puente la Reina. Den Weg bis Santiago legt er nach einem Ruhetag im PKW zurück; den Jakobstag (25. Juli) verbringt er nicht im trubeligen Santiago, sondern in Padrón, wo Jakobus angelandet sein soll, und als „Zugabe“ (S. 177) absolviert er noch den Weg von Santiago über Muxía nach Fisterra, an das Ende der Welt. Wahrlich eine Gewalttour!
Der Bericht ist ganz in Form eines Tagebuchs gehalten und durchgängig illustriert, in der Regel mit Aufnahmen des Autors. Leider sind nicht alle Fotos, die im Text erwähnt werden, auch abgedruckt worden (S. 52, 117, 171 u. ö.). Die Einträge, die meist in Wanderpausen oder beim „Ankunftsbier“ (das spielt in Wort wie Bild eine gewichtige Rolle) am Tagesziel erstellt wurden, sind mit genauen Orts- und Zeitangaben versehen, und sie enthalten regelmäßig Angaben zur Wegstrecke, zum Wetter, zu Sehenswürdigkeiten incl. Jakobusdarstellungen und -patrozinien und ganz besonders zur Verpflegung. So entsteht bei der Lektüre auch ein plastisches Bild der Speise- und Trinkvorlieben unseres Pilgers: Neben Salat spielen Fisch und andere Meeresfrüchte eine große Rolle, und die wollen bekanntlich schwimmen … Ergänzt werden diese vornehmlich dokumentarischen Angaben immer wieder durch Verweise auf Bibeltexte, Zitate aus dem Liber Sancti Jacobi und den Pilgerberichten Hermann Künigs von Vach sowie Arnolds von Harff, modernen Kunstführern, gelegentlich sogar einschlägigen Lexika sowie durch eigene Gedichte und Gedanken, die teils schon bei früheren (Pilger-)Wanderungen formuliert worden waren, teils erst auf der Via Turonensis entstanden. So sieht das Ergebnis zwar wie der genaue Abdruck eines zeitnah geführten Tagebuchs aus, ist aber, wie der Autor im Vorwort (S. 5) offenlegt, zu einem Fünftel erst zuhause im Zuge der Bearbeitung, Ergänzung und Kontrolle des Textes eingefügt worden. Das Erscheinungsbild des Buches (Titel, Typographie usw.) entspricht –bis auf die jetzt durchgehende Bebilderung– dem des ersten Berichtes „L(I)eben auf dem Weg“ von 2004; der geringere Umfang ermöglichte auch einen flexiblen Einband statt einer festen Einbanddecke. Das aufmerksame Lektorat hat nur wenige Fehler bei geographischen Namen übersehen (S. 98: Charente-Maritim; S. 111: Abbay-aux-Dames; S. 126: St-Saurin (mehrfach); S. 170: Mellide), und mit den Halunken des Titels sind, wie es scheint, François Villon (S. 54) und der einen Teufelspakt schließende Magistrat (S. 56) gemeint.
Das Fazit über diesen Jakobsweg zieht der Autor nach der Ankunft in Puente la Reina: „Die ‚via turonensis‘ […] ist der am wenigsten attraktive der ‚quatuor viae‘. Landschaftlich ist er recht eintönig, […] Der Anteil der Asphaltstraßen ist recht hoch. […] Die Wegemarkierungen sind durchweg sehr gut […] Der Weg bietet viele kulturelle und kunsthistorische Sehenswürdigkeiten […] An zwei wichtigen mittelalterlichen Zeugnissen der Jakobuswallfahrt führt der Weg vorbei (Paris und Pons), ansonsten sind die Hinweise auf die Wallfahrt etwas spärlich […] Da […] verwundert es nicht, dass er nur von wenigen Pilgerinnen und Pilgern begangen wird […]“ (alles S. 168). Das stimmt zwar –Begegnungen mit Mitpilgern sind sehr selten–, hört sich aber in der Zusammenfassung negativer an, als es die Lektüre des gesamten Berichtes vermittelt. Der Pilger auf der Via Turonensis hat die Möglichkeit, sich ganz auf den Weg, und besonders auf den eigenen Weg, zu konzentrieren und so “ganz weg‘“ zu sein, wie der Autor am Schluss des Buches über das Pilgern allgemein sagt (S. 193f.), nur vermittelt das der Bericht mit den zahlreichen Telefonaten und SMS, der (logistisch notwendigen) Begleitung und den sicher ebenso notwendigen Ruhetagen sowie den gelegentlich aufscheinenden Bezügen auf die Weltlage eigentlich nicht. Deutlich wird aber auch, dass der Verfasser die relative Ruhe nutzt, um über seine(n) Beruf(ung), seine Beziehung zu Gott, Jakobus und den Menschen, zu seinem ganzen Lebensweg nachzudenken und sich immer wieder zu hinterfragen. So ist es wie seine Vorgänger ein sehr persönliches Buch geworden, in dem man nicht nur viel über die Jakobuswallfahrt auf der Via Turonensis, sondern auch über den Autor, sein Leben und alle die erfährt, die ihm nahestehen, und ganz besonders die, die ihn auf seinen Jakobswegen begleitet haben.
(Dr. Ferdinand Beßelmann)
(aus: Die Kalebasse, Nr. 74, 2023, S. 69-72)